4. April 2006

Varieté Literaturbetrieb

 

Es setzt sich der Wunsch durch, verblichene Kritiker sitzend auf ihrem Stuhl zu beerdigen. Das senkt die Quadratmeterkosten und erhöht zeitweilig sogar die Pietät. Für besondere Verdienste darf sogar des Kritikers Sexualorgan, (besser: dem Kritiker sein Sexualorgan), nämlich der Kopf, herausschauen. Der wird dann später nach planmäßiger Verwitterung durch ein Bronzekonterfei ersetzt.

 

Volker Weidermann ist auch Kritiker, hat aber nun ein Buch geschrieben, es heißt „Lichtjahre“ und ist so etwas wie eine Literaturfamiliengeschichte seit 1945, der Text ist weniger ein literaturkritischer als ein Schreiber und Autoren beobachtender, und besonders gut bei extremer persönlicher Nahsicht. Kempowski kratzt sich am Kopf und schickt ein Fax an die Faz, Grass krickelt mit einem Filzstift auf anderer Leute Hüten herum und 1000 andere Episoden mehr.

 

Ein solches Buch können nicht viele Leute schreiben, man muss dafür an einem Hotspot des oft kalt und öde scheinenden Literaturmassivs arbeiten, zum Beispiel als Literaturredakteur. Denn für ein solches Buch bedarf es einer ungeheuren Masse an Informationen, die sich schlecht oder gar nicht recherchieren lassen. Wenn Vasari die „Bunte“ der Renaissance schrieb und Wackenroder und Tieck die „Hörzu“ der Romantik, dann hat Weidermann so etwas wie die „Gala“ für den Literaturbetrieb heutiger Tage verfasst. Für ein Buch wie „Lichtjahre“ muss man unendlich viele Gespräche geführt, Spaß und Albernheiten erlebt haben, mit Büchern und mit Leuten, lange bevor man beschließt, das aufzuschreiben. Natürlich muss man auch Bücher lesen, sogar mit aller gebotenen Ehrehrbietung der heiligen, dreibeinigen Kuh Literaturkritik gegenüber, aber das reicht nicht.

 

Als Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wird man jeden Tag bombardiert mit Korruptionsangeboten und Herzensergießungen. Geschichten, deren Verheimlichung stets als besonders diskret gilt. Ihre dann doch gar nicht diskrete Verabreichung an die Öffentlichkeit geschieht tröpfchenweise, um aus kleinen Unsinnigkeiten, kränkendem Juckreiz und kindlicher Begeisterung moralisch erbauliche Elefanten zu formen – die Seiten müssen schließlich voll werden. Wer nun wenigstens einen Teil dieser 1000 diskret, aber heiß gehandelten Kleinigkeiten in einem Packen, in einem Buch, in seiner ganzen irrsinnigen Fülle beschreibt, beschädigt, glaubt man der gerade wallenden Empörung, die Würde des steinernen Literaturbetriebs.

 

In „Lichtjahre“ selbst und in den Reaktionen darauf, merkt man, dass doch alle leben, dass die literarische Welt auch ein Varieté ist, und man freut sich über einen, der ein Buch schreiben kann über dies fabelhaft kranke Spiel und die wunderbaren Bücher.

 

Angelegentlich der erregten Debatte über den richtigen Umgang mit Literatur, die moralisch Überlegenheit und die Torheit des Eigendünkels empfehle ich dringend Henry Fielding zu lesen, der bereits 1749 sehr schön über die „Buchehrabschneider“ schrieb (Tom Jones, dtv 1971, 2. Bd. S. 63) und sich so schrecklich über die Literaturkritiker aufregte, dass er fast den „Tom Jones“ nicht geschrieben hätte.

 

Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute, KiWi

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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„Endlich ist die Verleumdung eines Buches ja auch die Verleumdung seines Verfassers; denn, wie man niemanden einen Bastard nennen kann, ohne zugleich seine Mutter eine Hure zu schelten, so kann auch niemand von einem Buch sagen, es sei dummes Zeug, scheußlicher Unsinn und dergleichen, ohne den Verfasser einen Dummkopf zu heißen. Dies Schimpfwort ist nun freilich im moralischen Sinn nicht so arg wie das eines Spitzbuben, ist aber dem weltlichen Vorteil dessen, auf den es angewendet wird, vielleicht weit schädlicher. (...)

Der Verdacht, die Bezeichnung Buchehrabschneider zu verdienen, fällt auch auf die, welche ohne besondere Fehler zu nennen, ein Buch im Allgemeinen und in entehrenden Ausdrücken verurteilen als da sind „elend“, „dumm“, „unsinniges Zeug“ und dergleichen; besonders wenn sie sich des kleinen Wortes „niedrig“ bedienen; ein Wort, das in den Mund keines Kritikers passt, der nicht wenigstens Wohlgeboren ist. (...)

Ferner, wenn auch in einem Buche hin und wieder tatsächliche Fehler aufgezeigt werden können, so verrät es doch, wenn sie nicht an den wichtigsten Stellen des Buchs vorkommen, oder wenn sie durch größere Schönheiten aufgewogen werden, eher die Bosheit eines Verleumders, als das wahre Kunsturteil eines Kritikers, wenn er über das Ganze wegen einiger fehlerhafter Stellen ein strenges Urteil fällt. Das läuft Horazens Ansicht stracks zuwider:

 

Verum ubi plura in carmine, non ego paucis

Offendor maculis, quas aut incuria fudit,

Aut humana parum cavit natura –

 

Wo sehr viel schönes im Gedichte glänzt

Beleidigen mich kleine Fehler nicht

Die etwa Kinder der Sorglosigkeit

Oder leichter Menschenschwächen sind

 

Denn wie Martial sagt: A liter non fit, Avite, liber, so wurden noch alle Bücher gemacht. Alle Schönheit eines Charakters sowohl wie einer Gestalt, und überhaupt aller menschlichen Dinge, muß so beurteilt werden. Grausam wäre es in der Tat, wenn ein Werk wie diese Geschichte, auf deren Erfindung einige tausend Stunden verwendet wurden, deswegen sollte verurteilt werden können, weil irgendein Kapitel oder vielleicht einige Kapitel so beschaffen sind, dass sich mit Recht und Vernunft etwas daran aussetzten ließe, und doch ist nichts gewöhnlicher, als dass die allerstrengsten Urteile über Bücher sich auf solche Einwände gründen, die, wenn sie berechtigt wären (was nicht immer der Fall ist), der Qualität des Ganzen keinen Abbruch täten. (...) Sich in seinen Schriften nach so strengen Regeln zu richten, ist ebenso unmöglich, wie gewissen verstiegenen Vorschriften nachzuleben, und nach Ansicht einiger Kritiker und einiger Christen zu urteilen, wird kein Schriftsteller in dieser und kein Mensch in jener Welt Gnade finden.“

 

Henry Fielding (1707–1754), Tom Jones (dtv 1972, Band. 2, ab S. 63)