20. März 2006

Handbuch der Dekadenz

 

„Im Sinkflug“ ist kein Entwicklungsroman, bei dem man eine Person dabei begleitet, sicher zu landen. „Im Sinkflug“ beschreibt überhaupt keine Entwicklungen, Alexander Schimmelbusch kommt nicht dazu. Gerade wenn man meint als Leser, einen Faden aufnehmen zu können, da schüttelt es den Erzähler derart hasserfüllt und unduldsam, dass man jede Hoffnung auf kontinuierliche Textabwicklung fahren lassen muss und gerne fahren lässt, denn die Zornesausbrüche und fantastisch perversen Projektionen gehören zum Besten, was dieser Roman bietet.

 

Die Szenen, die Schimmelbusch beschreibt, lassen sich in ihrer Drastik ohne weiteres mit Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ messen, mit dem entscheidenden Zusatz, dass der Autor von „Im Sinkflug“ obendrein die österreichische Wort-Kunst des zusammensetzenden Neu-Benamselns beherrscht. Der Ausdruck „Beautyfarmbohemien“ sollte zukünftig zum allgemeinen Wortschatz gehören. Das Wort beschreibt präzise das Milieu, in dem sich der Roman bewegt. Schimmelbusch schreibt von eingebildeten schwerreichen Vollidioten, die sehr gut wissen, dass sie keine sinnvollere Aufgabe haben, als sich mit 28-Dollar-Martinis zu betrinken. So ist der wesentliche Tagesordnungspunkt und Lichtblick im Leben eines Vorstandsvorsitzenden die Schikane der Angestellten. Martini, Golf und Langeweile also. Herzenskälte – Hilfsausdruck. Stolz bedeutet für diese Männer, die Idee einer 19.-Jahrhundert-Boheme mit den Errungenschaften der modernen Körperpflege plus Zynismus durch die Wurstmaschine zu drehen.

 

Alexander Schimmelbusch lässt einen gebürtigen Wiener in Amerika herumreisen, dem Land der unbegrenzten Missverständnisse, das nicht zuletzt gerade deswegen Land der unbegrenzten Möglichkeiten genannt wird. Man folgt einem „Erfolgsdeutschen“, einem Säufer. Es ist ein von sich selbst zutiefst angewiderter Mensch. Egal ob er im Four Seasons speist oder in einem heruntergekommenen Motel übernachtet, immer ist dieser Mensch hasserfüllt und umso wütender, desto gefangener in den asozialen Machtgeflechten, die er nutzt und verachtet. Es hilft ihm nicht, sich im Schmutz aufzuhalten. Es hilft ihm nicht, die Oberklasse mit Häme zu überziehen und die Unterschicht mit Hohn. Er ist dem jeweils angefeindeten Subjekt selbst zu ähnlich.

 

Ein geistiger Vetter Schimmelbuschs mag der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans sein. Dieser veröffentlichte 1884 die Bibel der Dekadenz „Gegen den Strich“, in der ein neurotischer junger Aristokrat in die artifizielle Welt eines mythischen Ästhetizismus treibt und schließlich an den Gestaden geistiger Umnachtung landet. Der Held Huysmans’, Des Esseintes, hat vor allem mit einer zähen Langeweile zu kämpfen, die ihn dazu veranlasst, seltsame Arbeiten in Auftrag zu geben. Zum Beispiel die Goldschmiedearbeit auf dem Schild einer lebendigen Landschildkröte, an deren eleganter Monstrosität er sich eine Zeit lang weidet. Er ist also zumindest noch einfallsreich.

 

Der Erfolgmensch der 2000er Jahre in „Im Sinkflug“ hat nicht einmal mehr ein funktionierendes Sensorium für überbordende Langeweile und deren kurzzeitiger Außerkraftsetzung, sondern nur noch ein Gespür für seine ungestillte und unstillbare Gier nach egal was. Schimmelbuschs Held ist sich seiner Depraviertheit so sicher, dass jedes Verhalten beliebig ist. Ein Mord ist mindestens so langweilig wie ein neuer Morgenmantel, obwohl man angeödet zugeben muss, dass die Textilindustrie erstaunlich schmeichelhafte Oberflächen herstellt.

 

Wir erfahren von einer Sinnkrise, ausgelagert in Schichten, die man als Bücher-lesender Normalbürger nicht kennt. Schimmelbusch operiert mit höflichem Abstand zur überall lauernden Gefahr, dem schockhaften Erkennen allgemeiner Sinnlosigkeit. Schimmelbusch weiß Fantastisches zu berichten über kindisches Verhalten in Luxusrestaurants und achtlose Verschwendung. Dies alles auf ein Normalleben heruntergebrochen, wäre ziemlich langweilig. Ein nicht ganz unwesentlicher Teil des Romans besteht deshalb in der Schau des Exotischen. Es geht hier nicht um präzise Beobachtung, die Analysen nach sich ziehen würde, es geht um furiose Beschimpfungen, gesteigert zu tollwütiger Schaum-vorm-Mund-Rhetorik. Auch das ist exotisch.

 

Unabhängig von der exotischen Schau der Oberklasse handelt „Im Sinkflug“ von seelischer Verlotterung. „Im Sinkflug“ ist ein böses Buch und deshalb manchmal sehr komisch. Für Gutmenschen, die besonders gute Taten bewundern, ist es auf Grund seines deprimierenden Potenzials nicht zu empfehlen. Alle anderen werden dem jungen Luftschaft-Verlag aus Wien wie seinem Debütautor einen Glückstreffer attestieren.

 

Gustav Mechlenburg

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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Alexander Schimmelbusch: „Im Sinkflug“. Luftschacht, Wien 2005. 178 Seiten, 19,90 EUR