15. März 2006

Von der Schwierigkeit, Mythen zu gründen

Vielleicht ist das wirklich ein böses Buch. Das letzte, das zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wurde. Ein Jahr später, im März 1945, brachte er sich um. Seit der Befreiung Frankreichs lebte er als Kollaborateur in verschiedenen Verstecken, die ihm seine erste Frau, eine Jüdin, zur Verfügung stellte. Die Romanform des zur Zeit der deutschen Besatzung spielenden Buchs wirkt eher gewollt als zwingend, es handelt sich viel mehr um einen wenn auch fiktiv eingekleideten Rechenschaftsbericht, der die „Handlung“ des Romans schon fast lächerlich erscheinen lässt. Verschiedene französische politische Gruppierungen haben ein Interesse an einem geheimen Waffenlager, um das es am Ende einen Kampf gibt, der sich so spannend liest wie ein Nouveau-Roman-Treatment für einen klassischen „film noir" Der Schwerpunkt des Buchs liegt also in der Reflexion und in diesem speziellen Fall in der Konstruktion. Es geht um nichts weniger, als am Ende der von den Deutschen verantworteten, weil von ihnen erfundenen Geschichte einen neuen Mythos zu kreieren, der sich um die biblische Gestalt des Judas dreht, der für Drieu – oder etwas vorsichtiger gesagt: für die Gestalt des charismatisch angelegten Constant – so etwas wie das transzendentale Apriori des Christentums darstellt. Ohne den Verrat des Judas kein zum Gott verklärter Jesus. Die Wahl des Barnabas hätte eine Religionsgründung ruiniert. Drieu spielt damit die Karte der Analogie aus. Genauso, wie in den Augen Constants aus Hebräern Juden geworden sind, so wurden – nicht erst im Zweiten Weltkrieg – aus Franzosen vaterlandslose Gesellen, die aufgrund ihres Substanzverlusts (Stichwort: Dekadenz) sich ihren möglichen Rettern anbiedern oder bereits das Stockholm-Syndrom vorwegnehmen, indem sie sich mit dem Besatzer, also den Deutschen, identifizieren. Frankreich ist also eine riesige nationale Leerstelle, auf der schon verschiedene Übernahmekandidaten aasen oder sich dazu anschicken (USA/UdSSR). Für den sich von scheinbar allen Ideologien befreit habenden Constant ist das ein halb komisches, halb trauriges Schauspiel, dem er mit einer aberwitzigen Regietat etwas religiöses Feuer unter die Statik legen will. Und wo Analogien bemüht werden, ist die Allegorie nicht fern. Natürlich repräsentieren die diversen Figuren ganze Nationalitäten oder politische Strömungen, und die aktuelle geopolitische Lage wird nun im Kleinen nachgezeichnet und mythisch überhöht, wie das immer so schön heißt. Da gibt es also die Figur des Cormont, der das am Boden zerstörte, wahre und echte Frankreich repräsentiert und der nichts Weniger als der liebe Jesus ist, dem Constant durch das aufoktroyierte Eigenopfer wieder ein bisschen Blut einzuflößen gedenkt, um ihm dadurch zum Auferstehen zu verhelfen. Constant ist Judas, der Verräter, der bei aller vorgeschützten Müdigkeit ziemlich stolz darauf ist, etwas mehr als nur eine Mode zu kreieren. Und das neu entstandene Frankreich wird dann ein Element nicht mehr haben, dem es, wie das ganze Abendland, seinen Untergang verdankt: das jüdische. Das Judentum ist der „practical joker“ der Schuldzuweisung, dass es im „drame statique“ des Westens nicht mehr weitergeht. Doch anders als in der damaligen Realität wird in diesem Buch ein Leichnam geopfert, der als allegorische Figur nicht so tot ist, dass der Autor nicht noch eine schlechte Kolportagegeschichte um sie herum aufbaut. Irgendwann hören Analogien auf, und der Druck zur Selbstentschuldung muss schon ziemlich hoch gewesen sein, um die Opfergeschichte so umzuschreiben, wie es dieser Roman tut. Das ist mindestens genauso zynisch wie geschmacklos. Ein bisschen hat es auch der Autor gemerkt. Denn was sind die letzten Zeilen anderes als eine Streichung dessen, was man da gelesen hat. Schlusspunkt einer Katastrophentheorie, die sich selbst in die Luft jagt.

 

 

Dieter Wenk (06.02.)

 

Pierre Drieu la Rochelle, Les Chiens de paille, Paris 1964 (Gallimard)