13. März 2006

Der naive Charme des Glases

 

Die Freiheit des Narren ist immer nur die von der anderen Seite aus gesehene. Er selbst beklagt sich über den Dienstleistungszwang, der ihm vom Rest der Gesellschaft auferlegt wird. Die Ungewissheit der Produktivität der Tiefenbohrungen der Grundlagenforschung ist ein modernes Seitenstück des barocken Narrentums, dessen Wahrheiten sich nicht in barer Münze und schon gar nicht sofort umsetzen lassen. Die Kunst wiederum gräbt nicht so sehr in tiefem Grund, als dass sie, spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende, in Teilen in den Himmel stürmt und stürzt. Utopie ist eben nicht am Erdkern zu finden, sondern ganz woanders. Für spätere Generationen, die das Wort Utopie wörtlich nehmen, sind viele der damals formulierten Positionen oft nur noch eines Lächelns wert. Man wundert sich über so viel Naivität, wie sie noch nach 1900 möglich schien. Oder gerade da, wo der entscheidende Schritt nach vorne oder oben kurz bevorstand? Die Ismen der Moderne – die Garküche der progressiven Transformationsprozesse?

 

Zwischen Symbolismus und der nicht nur konstruktionswilligen, sondern auch baufähigen Moderne des Bauhauses gab es eine seltsame Zwischenzeit, in der noch einmal so heftig geträumt werden durfte, dass sich rein gar nichts – vergleichbar mit der heutigen Tendenz dekonstruktiver Architektur – aus ihr ergab. Das kann man abgeklärt Verselbstständigung von Visionen nennen. Oder auch Universalisierungsversuch von Idiosynkrasien. Der Katalog „Farbenhäuser und Lichtgewächse“ stellt drei solcher Positionen vor, die den Charme haben, personell und thematisch miteinander verbunden zu sein, das „Gesamtkunstwerk“ Wenzel Habliks, die utopischen Landschaften des Schriftstellers Paul Scheerbart und die Konstruktionen und Pläne des Architekten Bruno Taut. Für alle drei waren Licht, Glas, Kristalle nicht bloß Materialien unter anderen, mit denen sich arbeiten ließ, um eine funktionelle Einheit mehr oder weniger perfekt abzuschließen. Sie waren Mittel und Zweck, da sie für Natur standen, deren geheimen Gesetzen die drei Künstler auf der Spur waren. Hundertfünfzig Jahre nach Rousseau noch einmal die Anrufung der Natur, deren Wahrheit mit der Zeit verblichen war und die es nun mal wieder galt, ans Tageslicht zu ziehen. Die im Kristall gefangenen Farbspiele, das natürliche Wachstum, die natur-analogen architektonischen Konstruktionen, die Mineralisierung des Menschen, die finale Formgebung. Man kommt als Leser nicht aus dem Staunen heraus, mit welchem Ernst solche Ideen zum Zirkulieren gebracht werden konnten, mit welcher Unbekümmertheit ein Ansatz und ein Ziel darüber hinweg täuschen konnten, dass es auch noch so etwas wie eine andere Form gab, mit denen die Künstler spätestens dann zu tun bekommen haben würden, wenn es daran gegangen wäre, ihre Pläne sich an einer konkreten Baustelle abarbeiten zu lassen. Aber dass sie ins Blaue bauten, war ihnen nur zu genau bewusst.

 

Die Herausgeber dieses Bandes haben sich entschieden, diesem Charme des Naiven noch einmal Raum zu geben und so zu tun, als ob das alles in der Ordnung gewesen wäre. Konsequent, dass ein Märchen von Scheerbart im Zentrum des Katalogs steht, von dem der heutige Leser nicht zu sagen wüsste, ob es mehr mit Goethes „Märchen“ oder mit dem albernsten Kunstkitsch zu tun hat. Hablik, Scheerbart und Taut bekommen also eine zweite Chance, aber es wäre vielleicht interessant gewesen zu zeigen, ob und wie gläsernes Bauen heute auf die kosmischen Fantasien von vor hundert Jahren zurückgreifen. Geläutert, geerdet, vermittelt. Trotzdem ein schönes Buch zum Blättern, mit vielen farbigen Abbildungen. Die Texte sind auf Deutsch und Englisch.

 

Dieter Wenk (02.06)

 

Rainer Hawlik/Sandra Manhartseder (Hg.), Farbenhäuser und Lichtgewächse/Colour Houses and Luminous Plants. Wenzel Hablik, Paul Scheerbart, Bruno Taut, Wien-Bozen 2006 (Folio)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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