4. März 2006

Bildungsroman

 

Die 70er Jahre an deutschen Universitäten, der frisch zu entdeckende Marxismus, den man glauben muss oder sich selbst verachten. „Würdest du über mich aussagen, wenn die Militärjunta in Chile ...“ Es ist grausam und komisch, was Stephan Wackwitz über seine Jugend zu sagen hat. Mit seinem jüngsten Roman „Neue Menschen“ schreibt der Autor dort weiter, wo er mit seinem Familienroman „Ein unbekanntes Land“, der von seinen Großvater und Vater handelte, aufgehört hat. Nun ist er bei sich selbst angekommen. Und wie das öfter passiert, wenn Literaten von sich selbst schreiben, wird der Text, obwohl man natürlich weiß, dass die beschriebene Figur niemals identisch ist mit dem Autor, verschlungener und sprunghafter.

 

Aber auf Wackwitz’ protestantische Contenance ist Verlass. Der Text löst sich nicht in Verwirrung auf, da er ihm eine Struktur zugrunde legt, die Stürme der Jugend wie Altersstarrsinn und ideologische Wahnvorstellungen zu einem Panorama aufzufalten in der Lage ist: den Entwicklungs- oder Bildungsroman. In der Literaturgeschichte handelt es sich dabei meist um junge Männer, die sich zu Künstlerischem berufen fühlen, irgendwelche Wanderschaften absolvieren und dabei auf ihre Meister und Lebensfrauen stoßen. Das Ganze entbehrt nicht der Komik, denn was die Männer am Ende lernen, steht in keinem Verhältnis zu den tosenden Empfindungen, die sie durchlebten.

 

In „Neue Menschen“ legt Wackwitz die Strukturen der Verblendungszusammenhänge offen, ohne seine Generation zu verraten. Er spricht so offen von sich, dass seine Leser und einstmaligen Mitstreiter wohl ehrlich zugeben müssen, ähnlichem Irrsinn in vergleichbarer Innigkeit angehangen zu sein und weiter anhängen. Ideologien als gnostische Welterfassung – eine Paradoxie, derer man sein Leben lang nicht Herr wird.

 

Wackwitz stellt klar, dass Liebeskummer oder Liebe, Marxismus oder pietistische Verzückung jeweils die Einheit der Welt herstellen. Und selbst die Überwindung von Verrücktheit bedeutet nicht, dass man sie als Idee loslassen will. Es ist das Material, aus dem die wahren Generationenkonflikte gemacht sind. Erfahrungen, die 30 Jahre Jüngere nicht mehr machen können und sich daher nur noch als Roman erzählen lassen. Das tatsächlich romantisch-nostalgisch versonnene Gebaren der jeweiligen Generation ist nicht zu ertragen, da jeder selbst tief in seiner eigenen „antrainierten Erwachsenenüberlegenheit“ steckt, aber lesen bei Stephan Wackwitz kann man das gut.

 

Gustav Mechlenburg

 

Stephan Wackwitz: Neue Menschen, Bildungsroman, 276 Seiten, S. Fischer Verlag 2005, 19,90 €

 

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