25. Februar 2006

Ein Vater

 

Einige tausend Jahre nach einer Schöpfung der Welt, wie sie einschlägig überliefert ist, bescherte der französische Maler Gustave Courbet im Jahr 1866 dem Auge einen anderen „Ursprung der Welt“, der so wenig mythologisch ist, dass seine abdominale Wahrheit gar nicht erst öffentlich zumutbar war. Halil Sherif Pasha, alias Khalil-Bey, hat es Courbet jedenfalls gedankt. So viel Aufhebens musste der Ex-Journalist und Groschenautor Emile Gaboriau nicht machen, als er im selben Jahr „Der Fall Lerouge“ in der Zeitschrift „Pays“ veröffentlichte, den vielleicht ersten Kriminalroman der Literaturgeschichte. Ein Vierteljahrhundert nach Poes Detektivgeschichte „The Murders in the Rue Morgue“ erblickte mit Gaboriaus erstem Ernst zu nehmenden Roman, dem schnell weitere folgten, ein Genre das Licht der Welt, die es gerne verdunkelte, um sie durch eine funkenschlagende Kombinationsmaschinerie um so heller oder greller leuchten zu lassen.

 

Gaboriau war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einer der meistgelesenen Romanautoren seines Landes, aber schon der Vielleser André Gide musste sich ein gutes halbes Jahrhundert später diesen Autor erst empfehlen lassen, um dem Vorläufer oder Vater der modernen Detektivgeschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Detektiv Lecoq, der zwar schon in „Der Fall Lerouge“ auftaucht, aber erst in dem ein Jahr später erschienenen „Das Verbrechen von Orcival“ den Fall selbst in die Hand nimmt und einem weiteren Roman den Titel gibt, teilt nicht länger die Poe’sche Sympathiezuschreibung des Agenten durch dessen Vergöttlichung und die entsprechende Debilisierung der Polizei, sondern verdankt sein Geschick der Tastsache, dass er zunächst ein Held der Unterwelt war, bevor er diese mit dem Polizeiapparat in die Zange nimmt. Gaboriau hat sich das alles nicht ausgedacht, vieles von dem, was er zu Romanen formte, fand er in Gerichtsakten schon vorstrukturiert, so auch den Fall Lerouge. Doch anders als in dem gleichnamigen Fall in der Wirklichkeit wird hier der Mörder seiner perfiden Tat überführt. Schon der Romananfang ist ganz wunderbar, nach Entdeckung des Verbrechens – eine Witwe wurde, wie man zunächst vermutet, Opfer eines Raubüberfalls – tauchen so viele Polizisten, Untersuchungsrichter, Detektive und Amateurdetektive auf, dass man sich fragt, ob man das damals immer so gemacht hat, oder ob die Lage wirklich so hoffnungslos ist. Es ist dann aber gleich der aus privatem Verdruss zum Hobbyagenten gewordene „Vater Tabaret“, der wie seinerzeit Cuvier die ganze Prähistorie aus einem Wirbel den Tathergang aus ein paar läppischen Indizien hervorzaubert.

 

Da man aber zu diesem Zeitpunkt erst ein Viertel des Romans hinter sich und das Buch so noch eine ziemliche Schlagseite nach rechts hat, kann die heutzutage nicht mehr ganz so überzeugende kriminalistische Hauptsorge nach dem Nutzen einer Tat noch nicht so weit erledigt sein, dass der Fall nicht noch einmal neu aufgerollt werden muss. Aber man bleibt gewissermaßen in der Familie, was sich jedoch erst nach einer spektralen Klassenanalyse ergibt. Und natürlich zeigt schon dieser erste Kriminalroman, dass der Ursprung des Verbrechens keinen anderen Ort hat als den Ursprung der Welt, hier als weibliche Dreifaltigkeit. Und ein bisschen männlichen Snobismus.

 

Dieter Wenk (05.02)

 

Emile Gaboriau, Der Fall Lerouge (auch unter dem Titel „Die Affäre Lerouge“, z.B. Insel, Frankfurt 2004)