13. Februar 2006

Rückzug

 

Es gibt auf dem Gebiet des Schreibens momentan vielleicht nichts Anachronistischeres als das Verfassen von Aphorismen. Die Zeit scheint vorbei, als der geschliffene, isoliert für sich selbst stehende Satz als spitzer Affront gegenüber dem Erzfeind Nummer eins, dem „System“, gelten konnte. Liest man einen „wilden“ Aphorismus, so ist oft nicht klar, woher er kommt, wer ihn schrieb, aus welcher Zeit, welchem Jahrhundert er stammt. Der Aphorismus, lässt man sich auf ihn ein, gibt einem das seltsame Gefühl (zurück), über den Dingen stehen zu können, endlich die nötige Distanz aufgebaut zu haben, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Denn für nichts weniger steht der Aphorismus ein: für das Sagen, wenn schon nicht der, so doch einer Wahrheit. Das Ziel ist es, die Augen zu öffnen, in der kürzest möglichen Zeit die größt mögliche Revision zu erzielen. Ein neuer Blick – und vielleicht ergibt sich dadurch allein schon ein Domino-Effekt, denn ein Aphorismus kommt, trotz seiner unwiderstehlichen Selbstherrlichkeit, selten allein.

 

In den jetzt erst auf Deutsch – vor 52 Jahren von Dávila im Selbstverlag herausgebracht – erschienenen „Notas“ lesen sie sich zu Tausenden. Es sind im besten, manchmal auch im schlechten Sinne, „unzeitgemäße Gedanken“, die der kolumbianische Autor vorstellt. Was vielleicht am schnellsten auffällt, ist das beinah im Racine’schen Sinne reduzierte Vokabular – Extrakt und Ergebnis einer Sperre –,  das sich vor nichts mehr zu fürchten scheint als vor einer Überflutung durch die Macht des Trivialen und Vulgären. Man weiß oft nicht, ob man immer noch im Salon steckt, wo auch La Rochefoucauld seine aktionsgehemmten Abende verbrachte; es ist die Rede von Tugenden und Lastern, die alten Fakultäten der Seele feiern ein Auferstehen und bitten um neue Qualifizierung. So heißt es an einer Stelle: „Damit wir meditieren können, müssen Wille und Spontaneität zusammenwirken, muss uns der Wille gerade das vollständig geben, was die Spontaneität bereits gewährt hat.“ Das ist ein Satz, der von eigener Erfahrung so weit weg liegt, der so apart ist, dass man erst mal gar nicht weiß, was man mit ihm machen soll.

 

Vielleicht sollte man vor jeder schnellen Verurteilung erkennen, dass es sich hier wohl vor allem um die Selbstbegegnung des Autors mit sich selbst handelt. Es sind Versuche der Selbstvergewisserung auf einem Terrain, das zunächst in der Tat einzig ist. „Schlechte“ Allgemeinheit ist Dávilas Sache nicht. Eher könnte man von einer pyramidal verengten Allgemeinheit sprechen, von einer personenunabhängigen Perfektibilität von Kräften und deren Zusammentreffen in einem idealen Geist, dem er sich zu nähern wünscht. Diese „Notas“ sind also nicht als autobiografische Notizen zu nehmen, in denen sich die weltlichen Erlebnisse eines lateinamerikanischen Autors zu lesen geben. Von sich selbst und seiner Zeit erzählt Dávila praktisch nichts. Der Leser tritt ein in eine Gespensterrunde und steht betreten am Eingang, von dem er weiß, dass er zu jeder Zeit einen Ausgang machen kann. Mit Aphoristikern kann man nur schwer in ein Gespräch treten. Es gibt nur eine Devise, wie es scheint: take it or leave it. Allein der Nachvollzug so mancher Notizen braucht Zeit und eignet sich nicht für eine schnelle Replik. Das Verhalten des Aphoristikers zur Welt ist vor allem ein ästhetisches. Das kommunikative Handeln tendiert gegen Null, das faktische Handeln ist eins mit ihr. Das einsame Zimmer, Descartes’ Kaminzimmer, ein beinah vollständiger Solipsismus, weil man mit der Welt, weil sie so ist, wie sie ist, nichts anfangen kann.

 

Der Aphoristiker ist logischerweise reaktionär, Cioran der europäische Zwillingsbruder Dávilas. Man fühlt aristokratisch, ist also elitär, mag infolgedessen Demokratie nicht sonderlich, weil diese keine Geheimnisse habe und überhaupt nichts anerkenne, was sich einem hierarchischen Wertekanon verdankt. Menschheitsmaschinismus – das ist zu flach und langweilig, als dass sich Dávila darauf einlassen könnte. Er besteigt die fiktive Zeitmaschine und geht ins bibliothekarische Exil. Man hat es also gewissermaßen mit einem Wahnsinnigen zu tun. Man findet als Leser schwerlich Brücken, die zu ihm führen. Was bleibt, ist Respekt vor der Haltung, die kein anderes Gericht erlaubt als das seiner eigenen Maßstäbe. In diesem Sinn sind alle Reaktionäre radikal. Über manches gibt es keine Diskussion, zum Beispiel über die Existenz Gottes, das einzige, was Dávila ungefragt anerkennt. Der katholische Furor bedrängt den Leser der „Notas“ allerdings noch nicht. Aber diese Dogmatik macht es doch schwer, alles, was daraus folgt – und es ist wohl alles – in einem ganz wörtlichen Sinne anheim zu stellen. So nonchalant geht es in diesen Dingen dann doch nicht zu. Manche Statements sind einfach blöde, weil ignorant, manche sehr ärgerlich bis zynisch. Aphorismen sind ja alles andere als einlässig. Die Kürze des Aphorismus ist dann seine größte Schwäche. So heißt es zum Beispiel an einer Stelle: „Der Nazismus war in seinen ausdrücklichen Thesen eine stumpfsinnige Doktrin, doch er beruhte auf unterschwelligen geistigen Grundlagen, die dicht und reich waren. Anzeichen einer Evidenz, die von rohen Händen ausgenützt wurden.“ Hinter diesem Spruch steckt im Grunde das ganze Drama Dávilas: Sein Vertrauen in den großen Einzelnen wie in die große Idee, die bloß von dem Umständen korrumpiert werden. Letztlich hat man es bei Dávila doch mit einem großen Simplifizierer zu tun, dem man bei fast allem mit dem Korrumpierungsschema kommen kann. Und das macht alle Reaktionäre auf Dauer so monoton, sie können nicht verwinden, dass „Gott“ sich nicht zeigt.

 

Dieter Wenk (02.06)

 

Nicolás Gómez Dávila, Notas. Unzeitgemäße Gedanken, aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann, Berlin 2005 (Matthes & Seitz Berlin), Batterien 73

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon