9. Februar 2006

Vorsicht, Spurrillen!

 

Haben sie nicht Diedrich Diederichsen gelesen? „Die Pop-Musik lebt davon, dass junge Spinner, die eigentlich doch noch gar nichts wissen können, auftreten, als wüssten sie alles – und damit durchkommen.“ So viel Abstand mit Humor wäre möglich, ist aber nicht gefragt. Es geht um etwas anderes. Wie kann man drinsein, rausgucken und am Ruder drehen. Aber mal von vorne.

 

Spur 1

 

Zwei, die es wissen müssen: Klaus Sander, Gründer des Audiolabels supposé, und Jan St. Werner, Musiker (Mouse on Mars), im Dialog über elektronische Gegenwartsmusik. Analysieren, vergleichen, unterscheiden, explizieren ihre Urteile, Ansichten, Überzeugungen, suchen verbindliche Antworten.

Als Gäste: Dietmar Dath, Matthew Herbert, F.X. Randomix, Klaus Theweleit, Oswald Wiener.

Der Plot: Die Verfügbarkeit von Musik-Hard- und -Software, Sounds und Presets hat eine unüberschaubare Musikproduktion ausgelöst, für deren überwiegende Nichtigkeit geblendete Kritiker und Rezenenten kein Sensorium mehr mitbringen. Die Technologie ist intransparent. Die „Sachbearbeiter“ am elektronischen Equipment dürfen sich ungehindert zu Künstlern erklären. Ihre Sounds sind referenziell, selbstreferenziell und hochkomplex in immer raffinierteren Verweisungssystemen – „ein Rausch an Bezugsmustern“. Die Hörer lassen sich auf die Rolle von Bescheidwissern festlegen, „und wenn du einen Namen nicht kennst, bist du draußen ...“. Die technischen Rahmenbedingungen – die Presets – simulieren höchstens Kreativität. Die Programme können nur im Rahmen fester Vorgaben verändert werden. Das Medium lässt nur seine eigene Botschaft durch – vorgemischte Welt.

 

Spur 2. Knock knockin’ on Heavens Door

 

Sanders und Werners Utopie ist eine voraussetzungslose Musik. Sie suchen das Musikrezept jenseits der Maschinenrezepte. Aus Sicht des Musikers seien die kognitiven Prägungen, die beispielsweise das Üben am Klavier hinterlässt, nachteilig. Wer später „seine eigene“ Musik machen wolle, müsse den Ballast erst wieder loswerden, und das sei den Ergebnissen anzuhören. Auf Seiten des Hörers gehen sie der Frage nach, ob die Strukturen der Musik „objektiv vorhanden“ sind oder „hineinprojiziert“ werden. Und wenn, müsste dann nicht jede Kommunikation über Musik sowieso unmöglich sein?

 

Für den Kritiker schließlich wünschen sie sich Klarheit über die alte Frage: Wie lässt sich das Richtige vom Falschen unterscheiden? Klaus Sander, dessen Kunstbegriff sich in der Idee einer „eigenen neuen Richtung, in die sonst keiner geht“ manifestiert, sehnt sich nach Regeln, „über deren Berechtigung man sich verständigt und einigt“. Warum ist Kunst keine Naturwissenschaft oder Mathematik? „Ich habe das und das Problem gelöst, ob ihr das jetzt begreift oder nicht, nach den Regeln der Mathematik ist es so.“ Auch ein Effizienzgedanke lässt sich dabei nicht ganz von der Hand weisen. Es soll Kunst werden, aber man hat eigentlich nicht viel Zeit. Lässt sich die langwierige, kontingente und fallible Kunstproduktion nicht ein bisschen besser unter Kontrolle bringen?

 

Gegen den Begriff des Geschmacks haben Sander und Werner Vorbehalte wie gegen den der Kreativität. Und wenn schon die ästhetische Urteilskraft sich beständig täuschen lässt, gibt es nicht vielleicht körperliche Schnittstellen, die Musik ungefiltert und echt durchlassen? Was lässt sich mit einem Wort wie Ergriffenheit anfangen?

 

Und während sie zunehmend darüber verzweifeln, dass im Reich der Kritik keine messbaren Ergebnisse zu erzielen sind, merken sie nicht, dass sie das einzig Mögliche ausdauernd und passioniert tun: kritisieren.

Manchmal resultiert Verwirrung aus begrifflicher Unschärfe. Dass Musik keine Sprache ist, während sie doch über Musik sprechen, sollte eigentlich kein allzu großer Widerspruch sein. Und der Möglichkeit, zwischen Gebrauchsmusik und Avantgarde zu unterscheiden, steht offenbar der in „Vorgemischte Welt“ viel geschmähte Pop-Diskurs im Weg. „Ich kann inzwischen alles so darstellen, dass es für einen entsprechenden Zielkontext interessant zu sein scheint“, erklärt Sander und möchte damit zum Ausdruck bringen, dass ihn solche Tricks nicht beeindrucken.

 

Klaus Theweleits Beispiele bringen konkrete Anhaltspunkte ins Spiel, entstammen aber zumeist dem Umfeld von Musikern, die es noch mit Instrumenten zu tun hatten. Nichtsdestotrotz ergeben sich daraus interessante Blickwinkel. Was heißt es, Musik am Computer zu erzeugen? Was daran desorientiert das Urteil der Kritiker? Was ist die Macht und Faszination von Musik und wie wird sie sich schließlich in Computersound übersetzen? Mit seinem Fazit, reden über Musik schaffe keinen Erkenntnisgewinn, konterkariert Theweleit die Bemühungen überraschend. Aber seine Grundidee gibt zu denken: Musik braucht einen Gedanken.

 

Spur 3. Lost in music

 

Die Dialoge dümpeln nur selten so im Unbestimmten rum. Sie nehmen schnell Fahrt auf, verdichten sich, und Sander/Werner arbeiten sich, aus Eifer oder Erschöpfung, stellenweise in bedrohliche Verspannungen hinein. Hier ruft einer empört „Das ist scheiße!“ und zwei Sätze später: „ist mir auch egal“. Auf plötzliche Einsichten folgen rhetorische Kapitulationen. Ü-40-Leser seien gewarnt. Die Beklemmungen im hermetischen Gesprächsfeld bergen durchaus gesundheitliche Risiken. Der Text dokumentiert die Angst, es könnte jemand schneller sein, als Produktionsbedingung von Gegenwartsmusik. Angst, dass „die Sache mal zum Halten kommt und man sie nicht mehr ans Laufen kriegt“. Angst, weil die Jüngeren den Älteren beständig auf den Fersen sind. Welchem Betriebsdruck ist man ausgesetz.

Man könnte sich entziehen und das alles ausblenden, aber lieber fände man Kriterien für einen sozusagen geordneten Rückzug in planmäßige Ignoranz. Denn nichts ist schlimmer als Unwissenheit. Über die Tabus der Informationsgesellschaft lässt sich einiges lernen und nebenbei entwerfen die Autoren überraschende Instant-Ethiken: „Man müsste ignorant sein und gleichzeitig offen.“ An solchen Stellen wird das Thema nebensächlich. Man braucht von elektronischer Musik nicht viel zu wissen, um zu verstehen, worum es geht. Möglichkeiten und Bedingungen ästhetischer Urteile überhaupt und deren Angemessenheit auf einem Terrain, das zwischen Gebrauchsmusik und Avantgarde schlichtweg alles hervorbringen kann – natürlich immer wieder Pop.

 

Sander/Werner nehmen ihr Projekt ernst, gehen gegen die Korrumpierung ihrer Überzeugungen vor und begeben sich in widerstrebende Regungen zwischen Wut und Abkehr. Und dann finden sie doch wieder einen Weg. Ihre Sackgassen sind so erhellend wie die Auswege. Gerade das Unfertige, Dialoghafte gibt dem Text seine Wirkung, der kein vorgefertigtes Pamphlet theoriefester Kunstretter ist – auch diese Presets bleiben draußen.

 

Spur 4. The Frankfurt Loops

 

Der prozessuale Charakter des Textes geht auf. Am Ende rächen sich aber einige anfangs nicht gelöste Fragen und wir fallen weit hinter frühere Einsichten zurück. In ihrer Kritik an der „nicht enden wollenden Masse an Kulturmüll, der alles zuschmiert und verstopft“ klingen die Herausgeber manchmal wie Horkheimer/Adorno auf der Parkbank vorm Seniorenstift. Insbesondere Klaus Sander legt einen fundierten Pop-Ekel an den Tag. Bei der Kunst terminologisch noch nicht angekommen, kann man sich vom Pop schon mal mit Verve abstoßen. Er befindet, über Erfolg und Misserfolg der Klangerzeugnisse sei von Anfang an entschieden. „Die brutalste Form von Vorgemischtheit“ ist der Betrieb. Was in den Läden steht, hat schon so viele Filter passiert. Die aktuelle Spiralwindung der Kulturindustrie ist ihre Privatisierung und Individualisierung in Form der Ich-bin-Künstler-AGs mit Notebook und Kopfhörer.

 

Anders als Klaus Theweleit bestärkt Oswald Wiener die Jüngeren darin. Seine Quintessenz lautet: Verweigerung ist das Einzige. Er gibt sich seine Stichworte selbst. Stil. Sinn. Mit Wiener nimmt der Dialog einerseits Platonsche Züge an, wird zum Lehrstück und führt gelingende Dialektik vor. Seine Direktheit ist äußerst hilfreich. Aber am Ende kippt dieser Effekt in eine Vogelperspektive, die alles einebnet und dann klagt, unten sei es so fad. Kulturfatalismus wird zum Schluss in den Vordergrund gemischt: „Was mich so beleidigt an unserer Musik …“, beklagt sich Wiener. Er „muss in die Straßenbahn, und da sitzen mindestens zwei oder drei Leute mit Kopfhörern, und ich kann nicht umhin, diese Schwingungen wahrzunehmen.“ Wer kein Geld fürs Taxi hat, ist „dieser Pest ständig ausgeliefert, was zum Teil große Selbstbeherrschung erfordert“ – („Diese tragbaren Telefone …“).

 

Gegen das Einerlei des Betriebs bringt Wiener die sensomotorischen Reflexe des Autofahrens, lateinische Zitate und Sigmund Freud ins Spiel. Grammatik und Körper. Ergriffenheit, Geschmack, Beatles und Schrödinger. Die Rache der kulturphilosophischen Mobilmachung ist aber ihre komplementäre Banalität: „Duchamp.“ – „Genau.“ – „Beethoven … Debussy.“ – „Ja.“ – „Oder Messiaen.“ – „Ja, genau!“ – „Mein Reden“. Ein Dialog im Fäulnisstadium, der am Ende nur ein Thema hat: Jeder redet über sich. Dieses Schlusswort hat das Projekt nicht verdient.

 

Spur 5. Zurückskippen

 

Es ist das Verdienst von „Vorgemischte Welt“, dass Klaus Sander und Jan Werner sich nicht damit abfinden, dass in Fragen der Kunst und des Erfolgs kulturpolitisch vorgefertigte Willkür herrscht. Abgeklärt sind sie nun wirklich nicht. Und bereit, noch jeden „Spinner“ erst mal für voll zu nehmen.

Aber wo am Anfang hinterfragte Gewissheiten stehen, ist am Ende alles ungewiss, und es wird auch nicht mehr danach gefragt. Sinnlosigkeit und Signifikanz treffen sich an den Polen, hier und da grüßen die Grenzen des wörtlich Vermittelbaren.

 

Der Leser hat dem Text schließlich etwas voraus. Für ein faires Urteil über „Vorgemischte Welt“ muss man sich auf Start begeben und die Spur wieder überspielen, die er gelegt hat.

 

Ralf Schulte

 

Klaus Sander/Jan St. Werner: Vorgemischte Welt. Wie handeln in der Popmoderne, Buch mit CD, Edition Suhrkamp 2005, 232 Seiten. 12 €

 

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