9. Februar 2006

Was vom Tage übrig bleibt

 

Irgendjemand hat mal behauptet, alles Unglück würde daher rühren, dass der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben könne. Selbst der Mönch muss von Zeit zu Zeit seine Zelle verlassen, und welcher Häftling hat schon das Glück, wie Rudolf Hess ein ganzes Gefängnis für sich zu haben. Der Leser dieses Buchs erfährt nicht, welcher Teufel den Protagonisten, schlicht L. genannt, geritten hat, die Gegenprobe aufs Exempel zu machen. Laggers Held macht dicht. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Jemand, eben L., schließt sich radikal von der (seiner) Umwelt ab. Einmal noch war er im Supermarkt, kaufte Bretter, Nägel, Dichtungsmaterial, Schläuche, einmal noch nervt er seine Nachbarin, weil er wie ein dicht gepackter Esel die Treppe hochmarschiert, doch dann kehrt allmählich Ruhe ein. Fenster werden verklebt, Zeitungen über Glas schwarz angestrichen, um den Tag-Nacht-Rhythmus draußen zu lassen, Türen abgedichtet, auf dass L. schließlich ganz mit sich allein ist.

 

Da L. kein richtiger Mönch ist, vielleicht eher ein Gefangener seiner selbst, geht der Spaß jetzt erst richtig los. Anders als ein Mönch kann L. nämlich nicht von seinem Körper absehen, dieser vielgestaltigen kommunizierenden Röhre par excellence. L.’s Körper mit all seinen Öffnungen lässt sich nicht unter einer Kutte ruhig stellen. Da ist noch viel zu viel los. All diese Organe mit ihren Zubringerleistungen, die Transporte und Umwandlungen und Abführungen. Wie William Burroughs in „Naked Lunch“ fragt sich L., warum es für die verschiedensten Körperverrichtungen nicht ein Organ gibt, das etwa aufnimmt und wieder ausscheidet. Die zahlreichen Überlegungen L.’s werden hin und wieder unterbrochen durch kleinere und größere Auseinandersetzungen mit der doch noch existierenden Außenwelt in Form von körperinvasiven Ameisen und halluzinierten Soldaten (weiblich konnotiert), die aber an der Hauptoperation L.’s nichts einschneidend ändern. Die Schnitte in den Körper besorgt sich L. selbst. Aus Schnitten werden mit der Zeit Reisen von Organen in Organen (wie man das auf einem bekannten surrealistischen Gemälde schön sehen kann: die Hand im Hautrevers), schließlich Abtrennungen, erst ein Arm, dann ein Auge, dann das Geschlecht, dann die Beine.

 

Es ist, als ob. L. zu viele Bilder von Bacon gesehen hätte. Oder als ob Lagger ein literarisches Analogon zu Bacons „Diagrammen“ schaffen wollte. Die vom Cliché abgetrennte Figur entstehen lassen, Umgehung von Modell, Muster und Figuration durch konsequente Entstellung, durch die Einführung einer Katastrophe, die das automatische Denken unterbindet. Am Ende jedenfalls liegt ein kopfloser Kadaver in der Badewanne, und das Seltsame ist, dass auch noch die Entdeckung des Selbstgemetzels durch die schon bekannte (und doch so unbekannte) Nachbarin in genau dem fiktionalen Arrangement bekannt gegeben wird, mit dem der Autor den Leser durch die Selbstreduktion L.’s geführt hat. Von Anfang an hat der Leser den Eindruck, mit einer Art avantgardistischem Text zu tun zu haben. Der Text läuft nicht durch, sondern ist, ein bisschen wie L.’s Körper, segmentiert und parzelliert. Es gibt Themen, die immer wieder aufgegriffen werden, wie zum Beispiel „über Türen“, „über Fenster“, „über Öffnungen“, „über L.“ (am Ende konsequenterweise zunehmend, wenn das Schnippeln überhand nimmt), „über Schmerz“ (ebenfalls konsequenterweise eher in den letzten Kapiteln, wo es weh tut (weniger als gedacht, so jedenfalls L.), „über Susanne“ (ist das die Erklärung? – eher nicht).

 

All das ist wie gesagt schön gemischt, und doch gibt es so etwas wie Progression, hier natürlich zum Schlimmen. Die Grammatik ist intakt, und doch gibt es eine Auffälligkeit von Abschnittsanfängen, die dafür sorgt, dass der Leser immer glaubt, mitten in etwas zu sein, durch einen Schnitt, der auch und vor allem ein Jump-Cut ist, und das von Anfang an: „Fällt die Tür ins Schloss:“ – und eben nicht: Die Tür fällt ins Schloss. Eine paranoide Überraschung stellt sich so ein. Eine gefährliche Öffnung macht sich bemerkbar, auf die L. reagieren muss. Zwecks Schließung. Ein weiteres Moment des „Überfallkommandos“ sind die durch Schrägstrich angezeigten Alternativen der erzählerischen oder halluzinierten Fantasie (inspiriert vielleicht von Wittgensteins „Bemerkungen“). Der Erzählton bleibt dabei trocken. Alles Sensationelle wird vermieden (und dann… und dann). Aber eigentlich weiß man nicht, warum man dieses Buch lesen soll. Es ist nicht die Geschichte (die dunkel bleibt), es ist nicht die Sprache, es ist nicht die Figur, die letztlich interessiert. Irgendwie der Versuch eines Schlags ins Lesergesicht. Als Parabel ist „Öffnungen“ dann doch zu platt.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Jürgen Lagger, Öffnungen. Ein Maßnahmenkatalog, Graz – Wien 2005 (Droschl)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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