4. Februar 2006

Reise in die Vergangenheit

 

Die Eindrücke, die Paul Gauguin in diesem 1897 zum ersten Mal veröffentlichten schmalen Band mitteilt, sind mehr als Impressionen eines Reisenden, eines Tourist gewordenen Malers. Der erste Aufenthalt auf Tahiti, der 1891 begann, wurde drei Jahre später durch „unabweisliche Pflichten der Familie“ beendet. Der Maler kam als dekadenter Europäer, als erblich schwer belastetes Mitglied der abendländischen Zivilisation, wie es damals hieß. Der Aufenthalt machte ihn zum glücklichen Wilden, so die eigene Einschätzung. Seltsamerweise ist Gauguin bereits am Anfang völlig bewusst, dass es den „Wilden“ gar nicht mehr gibt. Der Maler trifft zu einem Zeitpunkt ein, als der letzte König stirbt und das „Maori“-Kapitel offiziell geschlossen wird. Selbst Gauguin, der niemanden danach gefragt hat, reist in „künstlerischer Mission“ der französischen Regierung. Für die feindlich übernommenen Eingeborenen heißt das so viel wie „Spionage“. Gleichwohl oder gerade deshalb wird er von der dortigen Verwaltung aufgefordert, die künstlerische Aufsicht über die Trauerfeierlichkeiten des verstorbenen Königs zu übernehmen. Gauguin lehnt ab und verweist auf die Königin, der aus allem, wie er allerdings erst sehr viel später wird feststellen können, ein Kunstwerk zu machen gelinge.

 

Damit ist das zentrale Stichwort gegeben. Noa-Noa beschreibt weniger den künstlerischen Werdegang des Franzosen – seine Produktion ist ihm im Gegenteil nur ein paar Fußnoten wert, in denen einige Bildtitel festgehalten sind – als die Ästhetisierung einer „Rasse“, deren sozialen Tod er bereits selbst diagnostizierte. Nicht nur, dass er des Öfteren „harmonische und geschmeidige Gesten“ sieht, ein „weises Volk“ würdigt, eine immer mit sich selbst gleich bleibende Liebe zwischen den Menschen konstatiert und auf die Harmonie zwischen Mensch und Natur hinweist. Unter der Hand arbeitet Gauguin mit eben den Begrifflichkeiten, von denen er sich doch so sehr distanzieren wollte. So klingen ihm die tahitischen „Totengesänge“ wie die „Sonate pathétique“. Die Tatsache, dass eine Eingeborene Manets „Olympia“ „bien belle“ findet, lässt den Maler darauf schließen, dass sie den „Sinn des Schönen“ habe. Unmittelbar daran anschließend fragt er sich, was wohl die Professoren der „École des Beaux-Arts“ von seiner Begleitung halten würden.

 

Gauguin schüttet also nicht das Kind mit dem Bade aus. Auch in Europa gibt es Tendenzen, die nicht in das Verfallsschema passen. Alles, was nicht den „alten Routinen Europas“ folgt. Angesichts der Farbenprächtigkeit Tahitis stellt Gauguin einmal fest, dass es doch so einfach sein müsse, „zu malen, wie ich sehe“, ohne lange darüber nachzudenken. Die unmittelbare Übertragung. Nicht umsonst hat Gauguin nicht nur die „Olympia“, sondern auch religiöse Bilder der italienischen „Primitifs“ im Gepäck. An einer anderen Stelle spricht er von der „raphaelischen Harmonie“ einer Wilden, die wenig hübsch, aber schön im eigentlichen Sinne sei. Auch fallen ihm dazu Zeilen von Edgar Allan Poe ein, wonach ein Gesicht nicht zu glatt sein dürfe, um schön genannt zu werden. Gauguin gibt sich also als seltsamer Dekorateur einer Welt, die bereits untergegangen und doch, gewissermaßen in einem letzten Leuchten, das der Maler erhascht, aufscheint. Eine Wunschwelt, die sich aus Europa die Beschreibungen, und aus Tahiti das erlesene Material holt.

 

Aber das Eigenartigste an diesem Bericht ist dennoch der brachiale Wille Gauguins, selbst zum Wilden, zum Maori zu werden. Da niemand als er selbst daran Interesse haben könnte, muss er sich selbst initiieren, und zwar sich selbst überraschend. In einer ganz großartigen Beschreibung zeigt Gauguin, wie ihm das angeblich gelang. Er bricht mit einem jungen Maori auf, um auf einem Berg Rosenholz für ein Skulpturenprojekt zu schlagen. Während der junge, spärlichst bekleidete Mann vor ihm hergeht, meditiert Gauguin zunächst über die weniger auffällige „sexuelle Differenz“ zwischen Männern und Frauen auf Tahiti als in Europa. Unter der Hand gerät ihm der Jüngling jedoch zu einem Wesen jenseits von Mann und Frau, die Rollen von Mann und Frau scheinen in einem singulären, kritischen Moment verhandelbar, ein Ruch von „Verbrechen“ durchzieht Gauguins Hirn, vielleicht ein Überfall auf den Jungen, und wollen die tahitischen Frauen nicht alle „vergewaltigt“ werden („mau“) – in diesem Moment, wo alles möglich scheint, dreht sich der Junge um und zeigt seine Brust – und alles ist vorbei, der „Androgyne“ verschwunden, Gauguin selbst fühlt sich verwandelt, ein Kampf fand statt, und er siegte, symbolisch beglaubigt durch ein Taufbad in einem kalten Bergsee. Mit diesem Erlebnis beschreibt Gauguin den Übergang vom „alten Zivilisierten“ zum „Wilden“, zum „Maori“.

 

Das ist sehr anrührend zu lesen, und doch weiß man natürlich, dass dieses „Werden“ nichts Authentisches hat. Der Wille zum Wilden. Er tritt nicht ein in die Gemeinschaft, die ja schon eine von sozial Toten ist. Auch nach der Initiation respektiert er nicht deren Grenzen wie etwa den gebührenden Respekt vor den „tupapau“ den bösen Berggeistern. Gauguin bleibt für die Maori ein drolliger Gast. Am Ende erhält er immerhin ein dreizehnjähriges Mädchen zur Frau, die ihn in die Anfangsgründe der dortigen Mythologie einweiht. Zu spät. Was bleibt, ist noch nicht einmal ein entfernter Duft, Noa-Noa.

 

Dieter Wenk (02.06)

 

Paul Gauguin, Noa-Noa. Séjour à Tahiti, Bruxelles 1989 (Complexe)