31. Januar 2006

Übertretungen

 

Die sozialen Kapitel schließen sich im Verlauf des Romans wie von selbst. Am Ende geht eines noch einmal auf, aber es ist die Einschließung des „Helden“ in ein Irrenhaus, aus dem er sich kein Entkommen mehr wünscht. Adam Pollo, der Anti-Held, ist ein Streuner, für die Dauer des heißen Sommers im Midi hat er eine leerstehende Villa okkupiert, in der er alleine haust, sich in Liegestühlen am Fenster der Sonne aussetzt, am Strand herumvagabundiert und manchmal Michèle, seine einzige Bekannte, trifft, von der er sich Geld leiht für Zigaretten, Bier und Zeitungen. Adam ist sehr intelligent, fast möchte man sagen, wenn das nicht etwas albern klänge, zu intelligent, denn auch Valérys Herr Teste hat es immerhin geschafft, sich zu verheiraten und damit eine grundlegende soziale Handlung zu vollziehen, zu der ihn niemand zwang. Anders als Teste ist Pollo kein reiner Möglichkeitsmensch. Er leidet vielmehr an dem menschlichen Ablaufcharakter, den er nicht ernst nehmen kann. Er wirft alle Rollen von sich fort. Schloss sein Studium nicht ab, zog sich zurück. Versuchte einmal, Michèle bei 0° zu vergewaltigen, was nicht klappte. Adam ist unerreichbar, aber noch geht er unter Menschen, die er zufällig kennen lernt, für die Dauer der jeweiligen Begegnung.

 

So führt ihn ein streunender Hund zu seinem Frauchen. Irgendwann sagt sie zu Adam: Sie müssen noch sehr jung sein. Obwohl Adam schon 29 Jahre ist, stimmt das irgendwie, und das hat überhaupt nichts mit seiner Intelligenz zu tun. Er reißt die Dinge aus ihren normalen Zusammenhängen und befragt sie neu. Das macht die Anstrengung dieses Romans, aber auch seinen sprachlichen Charme aus. Mit Adam Pollo betritt man Neuland. Sprachlich geschaffenes Neuland. Man sieht die Dinge nicht unbedingt neu, weil es oftmals gar nicht um ihren optischen Charakter geht. Eine ruppige und zugleich elegante Sinnlichkeit verstört den Leser. Er ist mitgenommen in beider Bedeutung. Denn Pollo macht Dinge, die man sich selbst nicht zu tun getraut, ohne von der Gesellschaft für plemplem gehalten zu werden. Beispielsweise kehrt sich die humanistische Herr-Hund-Beziehung um; Pollo lässt sich von einem Hund durch die Stadt führen, ziellos. Eine weitere tierische Begegnung radikalisiert das Verhältnis, die Ratte wird zum Menschen, Pollo zur hässlichen Ratte. Metaphern werden wahr. Beschreibungen der Hitze am Mittelmeer drücken nicht einfach nur Stimmungen aus. Man hat es eher mit Materialisierungen zu tun, die dem Helden das Denken erschweren, aber nur in dem Sinn, dass sie es überhaupt ermöglichen. Daraus ergibt sich kein kindlicher, naiver Blick oder die wilde Sehnsucht nach einem vorgeschichtlichen Zustand, auch wenn das gelegentlich mit hineinspielt in die inneren Stimmen Pollos.

 

Mit der Zeit wird klar, dass es kein zurück mehr gibt. Pollos Befragungen sind nicht okkasionalistisch. Er ist ein verrückter Spieler, der anders als Teste nicht an sich halten kann. Einmal sieht man ihn noch auf der Straße unter Menschen, die er um sich schart einfach dadurch, dass er zu reden anfängt. Den Ausgang dieses Abenteuers liest man in der Zeitung, die der sehr diskrete Ich-Erzähler, der nicht mit Pollo identisch ist, in einem Ausschnitt zu lesen gibt: Angeblich sei es zu exhibitionistischen Einlagen seitens Pollos gekommen. Man nimmt ihn mit und steckt ihn in die Anstalt. Das letzte und längste Kapitel ist vor allem der ärztlichen Befragung gewidmet. Was steckt hinter Pollo? Warum hat er so gehandelt, wie er gehandelt hat. Für den beaufsichtigenden Arzt steht die Diagnose schon fest. Die Studenten mühen sich ab, eine Studentin lässt sich ein bisschen ein auf Adam, der das merkt und zu schätzen weiß. Eine Art geheimer Pakt entsteht zwischen den beiden, fast wie zwischen Agent Starling und Patient Lecter. „Tell me everything“. Am Ende jedenfalls wird man in der Annahme bestärkt, dass die Rede von der Verbindung von Dummheit und Glück nicht ganz zufällig in der Welt ist. Wer anfängt, die Dinge auszureizen und ein bisschen weiter als normal zu treiben, wird bald Ärger bekommen. Insofern ist „Das Protokoll“ auch ein Thesenroman, aber er ist vor allem ein Debüt eines 23-Jährigen, der einen ziemlich umwirft.

 

Dieter Wenk (01.06)

 

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Das Protokoll. Roman, aus dem Französischen von Rolf und Hedda Soellner, Berlin 1987 (Volk und Welt); Le Procès-verbal, Paris 1963 (Gallimard)

 

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