7. Januar 2006

Lieber Dietmar Dath,

 

mit „Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit“ hast Du unlängst einen Briefroman bei Suhrkamp veröffentlicht. Da bietet es sich an – die Korrespondenz ist zwar an eine unerwiderte Jugendliebe namens Sonja gerichtet, aber als Leser schlüpft man ja gewissermaßen in die Rolle einer Kollektiv-Sonja –, Dein Buch auch in Form eines Briefs zu besprechen.

Vorneweg ein Kompliment: Dein Roman erinnert in mancher Hinsicht an Thomas Meinecke einfallen. Wie er zuletzt in „Hellblau“ oder „Musik“ entwickelst auch Du in „Die salzweißen Augen“ eine Art gesampletes Schreiben. Du verbindest das Sprechen über drastische Kultur – Heavy Metal, Horrorfilme, Pornos – mit der bewusst ins Peinliche changierenden Erzählung einer Jugendzeit, der Reflexion kritischer Theorie und kulturwissenschaftlichen Fragmenten. Ich finde das sehr überzeugend. Wenn es stimmt, dass politischer Diskurs und Theorie auch Narrationen sind, dann ist es umgekehrt richtig, literarisches Erzählen politisch, theoretisch und diskursiv werden zu lassen. Das Vermischen von Stücken und Tonlagen hat bei Dir einen grundlegend anderen Sound als bei DJ Meinecke. Elektronische Musik und was man damit an Konzepten assoziiert, ist Dein Ding offensichtlich nicht. Im Buchladen bei uns um die Ecke kolportiert man sich, Du würdest Deinen ernormen Textausstoß – diesmal bist Du ausnahmsweise einmal deutlich unter 500 Seiten geblieben – ausschließlich unter Einwirkung harter, lauter Gitarrenmusik produzieren. Lustigerweise schlägt sich das in einem Feuilleton-Deutsch nieder, das in seiner präzisen Strenge durchaus als Hardcore bezeichnet werden kann – nicht weil es ‚heftig’ zu lesen wäre, sondern weil es sich durch eine ordentliche Portion Purismus auszeichnet.

Du bist ein großer Schreiber, trotzdem habe ich aber ein paar grundsätzliche Fragen an Dein Buch, die allesamt inhaltlich sind. Natürlich erzählt „Die salzweißen Augen“ auch ganz einfach eine in ihrer Peinlichkeit drastische Jugend und Deine Geschichte mit Sonja. Doch weil die Passagen zu Musik, Ästhetik, Form, Politik und – natürlich! – Drastik stärker in Erinnerung bleiben, würde ich behaupten, dass es eigentlich mehr um diese Überlegungen als um Sonja geht.

Du schreibst, es gehe Dir um Drastik; um „unpopuläre Massenkultur“, jene „absichtlich besonders schlecht ausgeleuchteten, peinlichen und fiesen Winkel (...), wo schlechter Geschmack, schäbige Produktionsbedingungen, extreme Oberflächlichkeit (...) Drogenmissbrauch, Prostitution und Psychopathologie einander die Hände zu einem Reigen reichen“. Eine Verteidigungsschrift für Heavy-Metal-Bands und Pornos willst du nicht verfasst haben, aber irgendwie durchzieht eine derartige Argumentation Dein Buch dann doch. Immer wieder berichtest Du, wie Du Dich erst in der Schule, dann in der Musikzeitschrift Spex, der Du zeitweise als Chefredakteur vorstandst, und heute schließlich als Wissenschaftsredakteur der FAZ für Deinen Geschmack rechtfertigen musstest. Man hat das, bemerkst Du an einer Stelle durchaus beleidigt, nie ernst genommen. Bis dahin kann ich folgen: Es ist nicht blöder, Iron Maiden zu hören als neue elektronische Musik, über Splatter kann man so intelligent oder dumm sprechen wie über Godard.

Von da jedoch schlägst Du eine weite Brücke. Du sprichst zunächst von einer Analogie zwischen Drastik und Aufklärung. In Horror- und Pornofilmen sehe man, dass Dinge Folgen haben – nach einem Unfall steckt eine Glasscheibe im Auge, Sex führt zu Samenerguss. Insofern sei Drastik, so Deine Argumentation, eine Ästhetik der Vernunft: kausale Verknüpfungen würden gezeigt: „Dass Drastik auf diesem verqueren Weg an das Versprechen der Aufklärung erinnert, man könne den Dingen ins Augen sehen, wie sie sind, ist ihre erhebende Seite und die Quelle des ästhetischen Genusses ihrer besseren Produkte.“ Auch dieser These kann ich folgen. Doch dann begibst Du Dich auf einen wahren Parforce-Ritt. Du behauptest, dass es vor allem die Antimodernen seien, die die Drastik – aus ziemlich dummen Gründen – ablehnten. Mit diesem Vorwurf scheint ein breiter Kreis gemeint zu sein: von alten SPEX-Kollegen und FAZ-Vorgesetzten bis hin zu Adorno / Horkheimer, Michel Foucault, Deleuze / Guattari und Judith Butler. Du bezeichnest sie als antiaufklärerische Antiintellektuelle.

Dagegen mimst Du den Streiter für die Moderne. Du behauptest, dass jeder, der „hinter die große Industrie zurück möchte, grausam und dumm“ sei, weil erst die Massenproduktion ein Wohlsein der Menschen ermögliche. Du wirfst den Kritikern des Staatlichkeitsapologeten Thomas Hobbes Esoterik vor, lässt über Foucault und Deleuze den Satz fallen, sie seien obskurantistisch, und klagst schließlich – schon wieder etwas beleidigt –, ein Verteidiger der Aufklärung mache sich heute „entschieden unbeliebt“.

Natürlich sollte der Begriff der Entwicklung gegen romantische Sentimentalitäten verteidigt werden – ganz in dem Sinne, dass links ein Synonym für prozessual und rechts für Fixierung ist, wie der Dokumenta-Kurator Roger Buergel unlängst in einem Interview (Felix Guattari zitierend) gesagt hat. Aber wie Du von da auf den Gedanken kommst, Foucault und andere seien reaktionär, wenn sie die Repressivität von Aufklärung und Liberalismus entschlüsseln, ist mir wirklich schleierhaft.

In den Passagen, in denen Du Dich darauf beziehst, steckt so viel Verve, ja fast schon Verachtung, dass ich mich frage, ob hier nicht ein eigenartiger Kurzschluss stattgefunden hat. Für mich liest sich die Verteidigungsschrift von Moderne und Aufklärung wie ein Rückfall in jene unsägliche Zeit, als Linke auf esoterischste Weise an den objektiven historischen Ablauf der Dinge glaubten: erst Feudalismus, dann bürgerliche Gesellschaft, industrieller Sprung und schließlich geordneter Einmarsch in die sozialistische Weltgesellschaft. Viel Vergnügen! Wenn du schreibst, Du wärst nicht gern Frau in Afghanistan und lebtest nicht gern im Mittelalter, affirmierst Du mit dieser allgemein durchgesetzten, aber trotzdem blödsinnigen Gleichsetzung den ganzen geschichtsdeterministischen europäischen Herrschaftsmüll: Hier ist die Mitte, der Rand muss modernisiert werden. Als wäre Afghanistan in 40 Jahren international geführten Kriegs nicht überaus erfolgreich modernisiert worden. Als wäre Frauenunterdrückung das Mittelalter und nicht – ebenso wie MTV und Internet-Cafés – das entfaltete 21. Jahrhundert. Die Taliban sind eben nicht nur, wie Du behauptest, Ausdruck gescheiterter Aufklärung, sondern auch Produkt ganz real materialisierter Vernunft. Ohne Informations-, Geheimdienst-, Verkehrs- oder Waffentechnologien, die es ohne Aufklärung nicht geben könnte, sähe es in der Welt und in Afghanistan anders aus – ob besser oder schlechter, weiß ich nicht zu sagen. Genau das macht die Widersprüchlichkeit des Zivilisatorischen ja aus. Industrie bringt nicht nur preiswerte Jeans für uns hervor, sondern auch Sklavenarbeit in Peking und Djakarta. Und noch allgemeiner: Weder Wissenschaft noch Technik können neutral sein, ständig werden Herrschaftsverhältnisse in sie neu eingeschrieben. Das Fließband etwa wurde nicht erfunden, weil es effizienter ist, sondern um die Handlungsabläufe der Arbeiter besser kontrollieren und unterwerfen zu können. Die Suche nach der Vernunft hatte nie nur die Emanzipation aus der Unmündigkeit zum Ziel, sondern produzierte in konkreten Verhältnissen auch immer Herrschaft mit. Genau der Irrsinn dieses inneren Risses ist es, der die Kritik von Aufklärung und Vernunft, ob nun vorsichtig wie bei Adorno oder radikaler wie bei Foucault und Deleuze, so lesenswert macht.

Wahrscheinlich kennst du diese Argumente besser als ich. Man kann ihnen, je nach Folie, die man heranzieht – freischwebende Berliner Nischenexistenz oder das Leben in der Favela von Sao Paolo – sicherlich unterschiedliche Bedeutung beimessen. In Zeiten jedoch, in denen viele junge Linke in Deutschland vom globalen Süden (von Urlaubsdörfern einmal abgesehen) nichts mehr wissen wollen, die zivilisatorische Wirkung von US-Kriegen preisen und keine Ahnung davon haben, dass es jenseits esoterischer Ökobewegung auch eine linke Determinismus- und Technikkritik gab, finde ich es ärgerlich, wenn etwas in so überflüssiger Weise vereinfacht und zurecht gelegt wird.

Abgesehen davon, lieber Dietmar Dath: große Schreibe, gutes Buch!

 

Raul Zelik

 

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen, Suhrkamp 2005

 

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