7. Januar 2006

„Such much“

 

Rein ist schon mal überhaupt nichts. Auf den Nachbarn muss man nicht lange warten. Man hat ihn sich nicht ausgesucht. Als Hilfestellung für Dritte wird dann gerne ein Sammeletikett bemüht, zum Beispiel im Museum. Da liest man knapp unter der Decke in schwarzen Balken Logos wie „Auflösung“, „Fluchten“ oder „Widerstand“. Das müssen sich alle Beteiligten, also Bilder, Skulpturen etc. und Besucher gefallen lassen. Die schwarzen Lettern sprechen von Dingen, die selbst nicht erlaubt sind in den heiligen Hallen, die es ja doch nach wie vor sind. Man darf diesen Schwachsinn nicht übersprühen. In konzeptuell gehaltenem Zorn geht man nach Hause.

 

Im Kino hat man’s immer noch einfacher. Da sind die Balken einfach Zwischen- oder Untertitel und gehören mit zum Spiel der Orientierung und Unterhaltung. Beim Sprechen und Schreiben über Filme als Kino-Kuratierung kann das schon wieder anders aussehen, in Sammelbänden betritt man wie in verschrifteten Museumsräumen Sektionen, die nicht bloß „Kapitel eins“ usw. heißen, sondern Lemmata-Konvois erzeugen als Gefühlswanderstab (wie in diesem Band), der die einzelnen Beiträge der Sektion durchsteppt. So ist die erste, vier Artikel hortende Sektion mit „Entfaltung Rührung Attraktion“ überschrieben. Man geht recht in der Annahme, dass hier auch ein Artikel zum Melodrama („Rührung“) zu finden ist. Am attraktivsten in diesem Beitrag ist sicherlich die außerfilmische Einsicht, dass die Rede vom „Blitz der Erkenntnis“ eine „berühmte Metapher Foucaults“ sei. Hier würde ausnahmsweise die Annahme vom „Tod des Autors“ sinnvoll sein, es sei denn, man geht alle möglichen lexematischen Reihen durch, wobei man hier gleich weitermachen könnte mit Canettis „Blitz und Donnerglaube“, der aber vielleicht noch nicht ganz so berühmt ist.

 

Raymond Bellour ist für die „Entfaltung“ zuständig, verknotet sich in seinem 50-seitigen Aufsatz aber schon im ersten Satz aufs fatalste, und der geht lustigerweise so: „Steigen wir gleich in einen geeigneten Film ein, um zu sehen, wie die Emotion in ihm von Anfang an Form annimmt, noch bevor die narrative Leidenschaft sich gleichsam in sich selbst verknotet und damit in einer scheinbaren Homogenität ein Gleichgewicht herausbildet.“ Ist denn da kein Lektor, der die Interessen des Lesers vertritt und den Autor zurück zum Start begleitet? Auch für den Kinogeher ist es nicht sehr hilfreich, mit folgender Definition von „Emotion“ von Bellour in den dunklen Saal geschickt zu werden: „Die Emotion ist jene Falte, die im perzeptiven Zwischenraum zwischen Unbewusstem und Bewusstem den von den Organen erhaltenen Eindruck in der Seele fixiert.“

 

Till Brockmanns Ausführungen zur Zeitlupe im Spielfilm aus der zweiten Sektion bringen nicht viel Neues, man hätte sich denken können, dass Slow Motion „eine neue Realitätsebene“ ins Spiel bringt. Der vielleicht wichtigste Satz des Sammelbandes steht bei Jens Eder, der den Wegen der Gefühle nachgeht. Auf die Unterscheidung zwischen „Fiktionsaffekten“ und „Artefaktaffekten“ (die es nur beim Zuschauer gibt, nämlich als distanzierend-ästhetische Würdigung zum Beispiel der Machart des Films) rekurrierend, schreibt er: „Die immer noch verbreitete Ansicht, Gefühle im Spielfilm beschränkten sich auf handlungsbezogene, bewusste Emotionen, ist also reduktiv, um nicht zu sagen: grundfalsch.“ Wer die Fassung des Rahmens nicht erträgt, zieht möglicherweise „falsche“ Gefühlsschlüsse“.

 

Als ob sich Vinzent Hediger diese Lehre hinters Ohr geschrieben hätte, stellt er sich die Frage, warum zu bestimmten Zeiten und zu welchem Zweck bestimmte Filme gedreht werden. Warum zum Beispiel drehte Steven Spielberg mit „Jaws“ (Der weiße Hai) keinen weiteren Flipper? Die 70er Jahre, so der Autor, waren eine Zeit, in der die Grenze zwischen Tier und Mensch bedenklich zusammenschrumpfte; allenthalben setzten sich Tierfreunde für die Rechte der Tiere ein, eine Revolution drohte, die menschlich-tierische Differenz auszuhebeln. Weil er das nicht mehr mit ansehen konnte, drehte Spielberg den „Weißen Hai“ mit einem Tier als Held, der keine Gefühle zeigte und einfach so Menschen aufaß. Seit „Jaws“ haben wir sie wieder, die Grenze.

 

Nicht hinters Ohr geschrieben hat sich Eders Lehre hingegen Christine N. Brinckmann, die über „Die Rolle der Empathie im Dokumentarfilm“ schreibt. Dogmatisch behauptet sie, dass Personen des Dokumentarfilms eine „tiefere“ Persönlichkeit besäßen als Figuren im Spielfilm: „Fiktionale Figuren sind ja, als Artefakte, sozusagen endlich: Sie besitzen nur diejenigen Eigenschaften, Gefühle, Erfahrungen, die der Text (sic!) enthält, auf die er sie überschaubar festlegt.“ Hier saugt der Rekurs auf die (hypothetische) Implizität des Lesers mal wieder jedes Blut aus der konkreten Lektüre, die sich ja auch einfach mal verhaspeln und sich ziemlich gehen lassen kann. Bei Brinckmann geht es so weiter: „Dokumentarische Personen dagegen sind so unauslotbar wie wirkliche, jede ein eigenes Universum, zeigen im Film aber nur einen Bruchteil ihres Wesens.“ Dann mal schön weiterpuzzeln in der Wirklichkeit.

 

Eigentlich versteht sich „Kinogefühle“ als Schrittmacher in den in der Filmwissenschaft zu erwartenden „emotional turn“. Kaum auszudenken, was da auf den Leser noch zukommen mag. Gefühlen geht es ähnlich wie Witzen, wenn man versucht, sie zu erklären, sind sie weg.

 

Dieter Wenk (11.05)

 

Brütsch, Matthias, Hediger, Vinzenz et al. (Hg.), Kinogefühle, Emotionalität und Film, Marburg 2005 (Schüren), Zürcher Filmstudien 12. 464 Seiten, 24,90 €

 

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