6. Januar 2006

Trailern – mit Joseph Conrad

 

Wenn Max Stirner Joseph Conrads Roman „Der Geheimagent“ hätte lesen können – leider war er bei Veröffentlichung des Romans schon 51 Jahre tot – hätte er vielleicht nicht „Der Einzige und sein Eigentum“ geschrieben. Denn wenn es richtig ist, wie Mrs. Verloc, die Ehefrau des anarchistisch gesonnenen und doch so bieder und dumpf dahinlebenden Geheimagenten, es auf den Punkt bringt, dass „das Leben einem genaueren Hinschauen nicht standhält“ – woraus sich die nur auf den ersten Blick rein formellen Beziehungen der Ehegatten ergeben – dann hätte eventuell auch Max Stirner bei näherer Betrachtung seiner Exzellenz des Einzigen erkennen müssen, dass es mit der Einzigkeit des Einzigen nicht so weit her ist. Es ist ein kindisches Buch, und dass es zu einer Art Bibel des Anarchismus hat avancieren können, spricht absolut gegen deren Vertreter, die es auch ohne Gottvertrauen zu einer beispiellosen Naivität gebracht haben.

 

Wie so was zustande kommt, ist allerdings schon wieder ziemlich kompliziert. Hermeneutisch ist da jedenfalls nicht viel zu bestellen. Aber ob sich Max Stirner in der Figur des „Professors“, des perfekten Anarchisten, wiedererkannt hätte? Dieses Monstrum, das immer mit einer Sprengladung herumläuft und nur auf den perfekten Moment der Zündung wartet. Dieser verhinderte Jahwe, dessen schlimmste Niederlage darin besteht, als Privatperson nicht in der Lage zu sein, seinen Hass und seine Verachtung auf die Menschheit so zu schüren, dass diese dabei mit einem lauten Knall verschwindet. Die völlig hirnrissige Abstraktheit der Einzigkeit Stirners findet in dieser Figur einen kaum noch zu überbietenden grotesken Niederschlag. Die Einzigkeit des Professors in Form unterstellter Stärke trifft dabei auf das nietzscheanische Paradox, dass singuläre Stärke (präsumiert) im Umfeld massenhafter Schwäche nicht weiter auffällt. Das kränkt den „Starken“ und führt ihn genau an die Tränke des Ressentiments, die eigentlich exklusiv für die Herde bestimmt war.

 

Dieser Professor ist also ziemlich krank und seine Eigenheit eher eine fixe Idee, die aber gut-anarchistisch als dem Fortschritt dienend abgesegnet wird. Aber dieses Zauberwort hat hier natürlich genauso wenig Platz wie bei Max Stirner, der eher ein früher Vertreter der Sponti-Bewegung ist, die sich aber in ihrer Absolutsetzung ganz von selbst abschafft. Man darf eben nicht so genau hinschauen.

 

Aber es lohnt sich, den „Geheimagenten“ sehr genau zu lesen. Nicht so sehr oder nur wegen der Geschichte, die „einfach“ ist, sondern wegen der Intarsien, die sie ziert, auch wenn dieser Zierrat recht häufig (wir haben es mit einer psychologisierenden Kriminalgeschichte zu tun) ein übel stinkender Unrat ist; aber das ist halt die Funktionsweise der Zweiklassengesellschaft von Oberfläche und dem, was dahinter und darunter steckt. Und dass wir heute in einem nach-psychologischen Zeitalter leben, also in einem, in dem wir uns der Psychologie wie mit einem Golfschläger bedienen, zeigt sich vermutlich nirgendwo deutlicher als in so manchen Trailern von Hollywood-Thrillern, deren Aufteilung formal genauso funktioniert wie ein minimaler, letztlich äußerst banaler Conrad’scher Dialog, der von der umfangreichen Erklärung und Charakterisierung, eben jenen Intarsien, ins Bodenlose, Abgründige, versenkt wird, weil man die einzelnen Dialogstücke, die häufig seitenlang auseinander liegen, einfach nicht (mehr) präsent hat – im Filmtrailer dagegen die eingelagerten lauten bunten zusammengeschnittenen Actionsequenzen direkt ins Auge gehen und fallen und die meist mit einem tiefen Bass gesprochenen, als Klammer gefassten und zwischen die Actionsequenzen eingesprengselten Hinweise, worum es dabei geht (Verrat, Hass), eigentlich so aphorisiert sind, dass es wie ein semantisches Hintergrundrauschen wirkt und man die Teile nicht mehr zusammenbringt. Genau dieser infizierende Sound, von dem man, ob man will oder nicht, überrannt wird, steht bei Joseph Conrad nicht einfach schon da (es sei denn als weißes Rauschen durch Überlesen), aber wenn man sich diese labyrinthischen Tunnel und charakterlichen Schnörkel erlesen hat, wird man feststellen, dass die Welt ein „Eigentum“ weniger hat.

 

Dieter Wenk (02.02)

 

Joseph Conrad, Der Geheimagent, Frankfurt 1963