2. Januar 2006

Der Ödipa-Komplex

 

Gibt es eine literarische Technik, die eine Verwandtschaft mit Paranoia hat, ohne zugleich als krankhaft klassifiziert zu werden? Wie steht es mit der merkwürdigen Form des Reimens, bei der gewisse Leute Ähnlichkeiten zwischen Dingen zu sehen scheinen, die dem Normalmenschen meist verborgen bleiben. Oder was hat man von der reflexiven Technik der „mise-en-abyme“ zu halten, des In-den-Abgrund-Werfens, dessen bekanntester und populärster Vertreter vielleicht die Mamuschkas sind, die Puppen in der Puppe, es will nicht aufhören. Es nimmt nicht Wunder, dass in diesem Roman von beiden Verfahrensweisen Gebrauch gemacht wird.

 

Denn in dessen Zentrum steht eine Frau, Oedipa Maas, die, während sie ihren Auftrag ausführt, auf eine Welt stößt, von der sie immer weniger sagen kann, ob sie real oder lediglich eingebildet ist. Sie lernt Elemente einer parallelen Welt kennen, die weit in die Politik- und Literaturgeschichte zurückgehen, von denen sie aber nicht sagen kann, was sie bedeuten. Der Leser weiß es leider auch nicht. Und das hängt nicht nur am „cliff hanger“, der das Ende des Romans ziert, also an einer ziemlich sensiblen, eigentlich unmöglichen Stelle angebracht ist. Die Unsicherheit ist dem Roman inhärent, sie wird sogar thematisiert, die Lösung von Fragen ist nie eindeutig, Oedipa und der Leser werden ständig mit Varianten konfrontiert.

 

Diese Figur kennt man unter dem merkwürdigen Titel Kopien ohne Original, von denen aber im Grunde jeder einzelne Vertreter der Gattung Mensch ein Beispiel ist. Und das ist die eigentliche Obsession dieses Romans. Nicht, dass man bestimmte Ereignisse nicht mehr so richtig rekonstruieren kann, weil ein paar Daten fehlen, sodass man bis auf weiteres auf verschiedene Interpretationen angewiesen ist, sondern dass etwas überhaupt verschwindet und man nie mehr daran wird anknüpfen können. Dass eine noch so große Intensität gleichsam sich niemals zugetragen hat, wenn es keine Spuren gibt. Ja, man muss verschärfend sagen, dass die Spur kein Zeichen der Intensität ist. Die Vergangenheit ist verloren, und das ist zugleich der Grund, warum es Paranoia gibt. Es ist der mehr oder weniger verzweifelte Versuch, eine unerträgliche Unzumutbarkeit zu mildern. Oder sie sogar in ihr Gegenteil zu wenden: in die Evidenz, die für sich selbst spricht, womit dann bekanntlich die anderen ziemlich viele Probleme haben, das ebenso nachzuvollziehen wie die Paranoiker.

 

Es geht also um Kommunikation, ihre Vereitlung, ihre Macht und um den zweiten Kanal – in diesem Roman um ein zweites, inoffizielles Postsystem, das den schönen Namen W.A.S.T.E trägt. Was es mit diesem Abfall auf sich hat, das erzählt das Buch, aber ehrlicherweise müsste man sagen, dass es der Abfall ist, es ist das, was übrig bleibt von den verschiedenen Recherchen Oedipas, die angetreten ist, das Testament ihres ehemaligen Geliebten zu vollstrecken, und in deren Verlauf sie zu einer Zeichenleserin wird, dessen Wahnsinn Methode hat, wenn es denn Wahnsinn ist. In einer etwas weniger vielschichtigen Form wird das auch Peter Handke in seinem Buch „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“  betreiben, aber der kannte natürlich auch die Franzosen des „nouveau (nouveau) roman“, die aber alle eine gewisse Kälte charakterisiert, eine Distanziertheit, eine Klarheit wie bei einer die Wachheit steigernden Droge. Man kann also das Buch am Ende zuschlagen und sich sagen, dass Paranoia immer die der anderen ist. Mich geht sie nichts an. Aber vielleicht bin ich schon in ihrem Visier?

 

Dieter Wenk (01.02)

 

Thomas Pynchon, Die Versteigerung von No. 49, übersetzt von Wulf Teichmann, Reinbek bei Hamburg 1973 (The Crying of Lot 49, London 1967)