23. Dezember 2005

Cash hieß bar

 

Ein Briefroman. Das Ende von 40 Jahren DDR sind der Anlass, ein Konvolut von Briefen zu sichten. Geschrieben von einem Mann namens Enrico Türmer, Theatermann und Schriftsteller zu DDR-Zeiten, Journalist und Zeitungsverleger zu Wendezeiten. Herausgegeben und mit Kommentaren versehen von Ingo Schulze.

 

Ingo Schulze landet mit diesem Literaturbackstein mehr als nur eine vielseits herbeigewünschte DDR-Darstellung. Neben den dokumentarischen Schilderungen ist das Buch vor allem eine Übung in verschwimmender Autorschaft, also idealen Bedingungen für Beichten in Briefen, die je nach Adressat unterschiedlich ausfallen.

 

Schulze arbeitet geschickt mit der illusionären Idee vom unschuldigen Schreiben. Briefe haben wie Tagebucheinträge den Geruch des Authentischen. Das Voyeuristische, die Schlüssellochperspektive beim Lesen fremder Briefe, ist eines der fesselndsten Stilmittel, die es gibt. Zusammen mit der im Anhang versammelten Kurzprosa des Briefschreibers Enrico Türmer, sowie den rechthaberischen Fußnoten des Herausgebers, die sich bekanntermaßen stets höherer Mächte versichern, ergibt „Neue Leben“ ein Buch, das sich gekonnt und mit leiser Ironie durch diverse Strategien der Literatur bewegt. Ingo Schulze bekommt die an der Wende beteiligten Leser, die besserwissenden Außenstehenden, die Leute, die Kurzprosa lieben, die, welche Briefromane lieben, er bekommt alle Leser, und er hat sie verdient.

 

Der Roman „Neue Leben“ spielt an den, zu Widerstandsorten typisierten, angeblich bevorzugten Aufenthaltsplätzen der Dissidenten: Theater, Zeitungen, Schriftstellerklausen, eine künstliche und künstlerische Öffentlichkeit, eine latent verkannte, beleidigte, gleichzeitig aber meinungsbildende Atmosphäre. Schulze entdeckt dem Leser, ein paar empfindlich spießige Noten im selbstgefälligen Treiben dieser Branche, egal in welchem Staat. Also Angsthasen, hier wie überall, Großmäuler, pathetische Schaumschläger. Enrico Türmer ist Teil dieser Gruppe Menschen, kein Held, aber nicht unsympathisch. Die Leipziger Demonstrationen sind Türmer zurecht unheimlich. Er weiß schon lange, dass gefühlte Dissidenz besonders gut hinterm Mond aufrechtzuerhalten ist, oder eben in Altenburg, einem Städtchen Thüringens, wo die Geschichte spielt. Schulze ist realistisch.

 

Türmer berichtet in seinen Briefen, um aus den tagespolitischen Wirrnissen zu entkommen, auch von seiner Kindheit. Von pubertären Jahren der Gewissheit, einmal ein berühmter Autor zu werden, und landet auch bei den Jugenderinnerungen wieder beim Dissidenten-Problem, dem Bedürfnis, sich an der DDR abzuarbeiten. Kritisieren und dann fliehen – in den Westen, ist sein Traum. Zu diesem Traum gehört die große Furcht, nach der Flucht kein Thema mehr zu haben, und andererseits der Stolz, als Gefahr für den Staat wahrgenommen zu werden. Angst vor Veränderung und Sehnsucht nach großen Gefühlen treiben den Jungen wie den Erwachsenen.

 

Enrico Türmer, wie gut der Name zu dem Charakter des Mannes passt, wie er zum Charakter der Deutschen passt. Türmer, der 1990 seine Schriftstellerambitionen fahren lässt, entdeckt den Kapitalismus für sich, ertrinkt prompt in Schulden und türmt. Er Hinterlässt die Kopien seiner Briefe, der eigenen Autorschaft, dem kunstvollen Schreiben also doch eitel bewusst.

 

Ihm gegenüber steht eine schillernde internationale Gestalt. Barrista, eine Art Felix Krull, ein Hochstapler, dessen Interessen Enrico Türmer nicht klar werden. Er ist fasziniert von diesem Investmentteufel, einem gerissenen Geschäftsmann wie aus dem Bilderbuch. Er ist für die Altenburger mit ganz neuer, nie gehörter Rhetorik ausstaffiert. Pathetisch romantisch, aber eben kapitalistisch, nicht pathetisch sozialistisch. Diese Sprache muss man verstehen, um sich nicht verraten zu lassen. Die Altenburger, dieser Sprache nicht mächtig, geraten in Teufels Küche. „Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er darin angerichtet?“, fragt sich Türmer. Es ist ein neuer Wortschatz, der in die Köpfe gerät. Enrico Türmer, nennt sich nun germanenstolz Heinrich, gibt sich aber in Paris lieber für einen Russen aus. Er will um Gotteswillen nicht für einen Ostdeutschen auf erster Auslandsfahrt gehalten werden.

 

Wie schnell sich Sprache verändert, kann man in diesem Buch verfolgen. Bar heiß jetzt cash. Vor 6 Jahren hieß die Weltgegend, von der die Rede ist, im Westen des Landes 5 neue Bundesländer, davor Ex-DDR, noch davor Ostzone. Dass sich Menschen mit der Sprache ändern, klingt trivial, aber man merkt es normalerweise nicht. Heinrich merkt es selber auch nur selten. Da geht nicht ein Ruck durch Deutschland, sondern es ruckelt die ganze Zeit, und man kann Personen nach wenigen Jahren solchen Geruckels kaum wieder erkennen. Die kindliche Freude an fest schließenden Edelstahltöpfen verfliegt.

 

„Neue Leben“ ist in Buch, um Entwicklungen zu rekapitulieren, die im Europapathos und Wendekitsch heutiger Tage anders dargestellt werden. Beim Lesen erinnert man sich wieder. Der Umbruch für Europa begann in Polen, nicht in Leipzig. Die freundlichen Grußadressen der DDR an die Chinesische Staatsführung nach dem Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens am 4. Juni erzeugten keine offene Empörung in der deutschen Bevölkerung. Verwirrt und zaghaft war der Beginn der Demokratiebewegung in der DDR. Das gegenseitige Misstrauen entwickelte sich zu selbstzerstörerischer Größe. Das Neue Forum war nach kürzester Zeit verraten und verkauft. Schlangen bildeten sich, um die Bildzeitung zu kaufen, nicht aus Interesse an den publizistischen Neuanfängen im Osten. Die so genannte friedliche Revolution war ein massenpsychologisches Desaster. Die Bevölkerung am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der Briefschreiber lässt sich wahnhaft hinreißen, aber die Desillusionierung folgt unweigerlich. Ingo Schulze gelingt es, diese Zustände zu schildern, ohne sie pathetisch zu verkitschen.

 

Das Jubelgeschrei, das nun endlich der Wenderoman auf dem Markt sei, ist verwunderlich. Es handelt sich bei dem Buch Ingo Schulzes sozusagen um ein Frühwerk in einer ganzen Kette von Büchern, die noch zu schreiben sein werden. Das literarische Potenzial dieser 40 Jahre ist groß und kann gut noch Jahrzehnte ruhen, bis man in der Lage sein wird, die psychologische Verfasstheit und die rabiaten Veränderungen zu Literatur zu machen, ohne provinzielle Folklore zu produzieren. Ingo Schulze ist ein Roman gelungen, an dem sich nachfolgende Autoren werden messen lassen müssen.

 

Nora Sdun

 

Ingo Schulze, „Neue Leben“, Berlin Verlag 2005, 789 Seiten, 22 €

 

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