19. Dezember 2005

Imagine there’s no image

 

Nach wie vor ist völlig unklar, was es heißt, „absolut modern“ zu sein, eine Haltung, die Arthur Rimbaud seinerzeit als Imperativ kategorisch forderte. Bloße Gegenwartsbeteiligung reicht dazu nicht aus. Jetztzeitler können wunderbar reaktionär sein. Postmoderne wiederum entschieden fortschrittlich. Die zweite Moderne ist vielleicht nur relativ, aber nicht ganz modern. Und die Kunst? Und die Kultur? Von was spricht man, wenn man davon redet? Von welchem Standpunkt aus?

 

Hans Beltings hier versammelte und von Peter Weibel ausgewählte Aufsätze aus den vergangenen 16 Jahren legen Zeugnis ab von der Schwierigkeit, inmitten der Umbrüche, die wir erleben und aufgrund der diskursiven Lockerungen und zu erwartenden Umstellungen, die jene hervorrufen, den Mantel des Selbstverständlichen zu tragen und darüber zu vergessen, dass man irgendwann anfing ihn anzulegen. Es gibt keine sicheren Terrains mehr. Das Ausstellungskonzept der letzten documenta etwa wollte zu genau dieser Einsicht verhelfen. Was man glaubt, getrost nach Hause tragen zu können, ist unerbittlich mit einem zeitlich-geografischen Index behaftet, der die Schotten nicht dicht, sondern auf offene Grenzen aufmerksam macht. Selbst das, was man nicht mit nach Hause nehmen darf, also alles, was zum Beispiel im Museum herumsteht, sieht einen plötzlich an und fragt: Was mach ich eigentlich (noch) hier? Ist die Anschauungsfunktion, mit der ich antrat, noch zeitgemäß? Welchem Betrachtungsmodus unterstehe ich aktuell? Überhaupt, so die Frage des Museums, wie steht es mit dem „Ort der Bilder“? Ist dieser im Museum, oder im Fernsehen, im Kino, oder vielleicht nirgends konkret, sondern immer nur je aktuell im Wahrnehmen eines Betrachters? Also ganz subjektiv, ephemer und unübertragbar?

 

Es stehen hier deshalb so viele Fragen, weil die Stärke dieses Bandes darin besteht, eben Fragen zu stellen. Den Leser erwarten keine Antworten auf das, was Moderne ist, was Kunst und Kultur. Vielmehr erleben wir gerade einen entscheidenden Moment, wo scheinbar fest stehende monolithische Gebilde zerfallen, weil sie mit Gebilden konfrontiert werden, die gerade dabei sind zu entstehen. Plötzlich muss man also selbst Rede stehen, darf nicht mehr einfach drauflos erzählen, weil niemand mehr zuhört wie früher. Der Westen gibt sich wohl noch als Moderator, aber er sitzt sich nicht mehr allein gegenüber, und schon gar nicht als dekadent modernes Nichts. Die spielerische Postmoderne findet nicht überall statt, und die klassische Moderne hatte wohl unrecht, sich dies- und jenseits des Äquators zu spiegeln. Wie sähe heute ein postkolonialer Blick auf fremde Kulturen aus? Wie präsentieren sie sich selbst, jenseits von westlicher Bevormundung und falsch verstandener Folklore? Wie sinnvoll ist es überhaupt, den auch im Westen noch recht jungen Begriff von Kunst im emphatischen (autonomen) Sinn nach außen zu verlagern, wo er vermutlich selbst im Westen in Zukunft eine andere Rolle spielen wird, nämlich eine arg defensive in der Arena der Mediengesellschaft (inklusive Kunstspektakel und Event-Kultur).

 

Belting jedenfalls macht sich stark für ein Museum als Ort der Reflexion und diskursiven Animation. Erziehung des passiven Kunstpublikums zu einer Art ästhetischen Zivilgesellschaft. Statt eines den eigenen Blick von außen stanzenden „Imaging“ ein selbst erlebtes und reflektiertes „Imagining“. Hans Belting möchte nicht, dass Baudrillard, dem er auf weiten Strecken folgt, das letzte Wort behält. Das ist sehr sympathisch, vernünftig, alles andere wäre auch fürchterlich langweilig, selbst Baudrillard redet nicht anonymen Strukturen das Wort, sondern lamentiert und raunt als getroffener Romantiker. Neben Analysen zu kulturellen Institutionen und Zeitgeistbetrachtungen bietet der Band mehrere sehr einlässige Beobachtungen zu einzelnen Künstlern wie Nam June Paik, Hiroshi Sugimoto und Gary Hill. Sehr interessant zu verfolgen, wie der Videokünstler Hill ausgerechnet den hermetischsten Schriftsteller Frankreichs des 20. Jahrhunderts, Maurice Blanchot, fruchtbar zu machen versucht. Leider ist die Analyse ohne Anschauungsmaterial wie eine Fahrt auf dem Trockendock, aber die Furien des Verschwindens von Bild und Text tauchen doch hin und wieder auf und zeugen zugleich von Beltings Interesse daran, den möglichen Ort von Kunst zu bestimmen als markierter Verweigerung, die im Kopf des Betrachters eine Interpretation erhält (und nicht bloß eine wohlfeile Einkastelung).

 

Es gibt ein paar Redundanzen in dieser Sammlung, aber die hat nicht Belting, sondern Weibel zu verantworten. Eine Bemerkung zur Materialität des Buchs selbst, das in der Reihe der „Fundus-Bücher“ erschienen ist, die von sich als einer „Anderen Bibliothek“ der ästhetischen Theorie wirbt. Das ist frech, weil es nicht stimmt. Fundus sieht handlich aus, kompakt, ist aber, wenn man das Buch aufschlägt, extrem sperrig und lässt sich nur mit Gewaltanstrengung lesen; lässt man locker, schnappt das Buch wie eine Falle zu. Eine solche gestalterische Katastrophe haben die Texte in dieser Reihe nicht verdient.

 

Dieter Wenk (11.05)

 

Hans Belting: Szenarien der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen, ausgewählt und eingeleitet von Peter Weibel, Hamburg 2005 (Philo & Philo Fine Arts/EVA)

 

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