10. Dezember 2005

Automaten-Literatur

 

Die Wahl zwischen Zucker und Zucker hat man an Berliner U- und S-Bahnhöfen. Aber auch in Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Hamburg, Köln und Osnabrück. Bücher aus Süßigkeitsautomaten – geistige Schluckimpfung.

 

Seit Dezember 2003 verkauft der Verlag SuKuLTuR Lesehefte aus Automaten für einen Euro. Die Hefte sind so groß wie Reclambücher. Eine sehr praktische Größe – Hosentaschenformat. 16 bis 24 Seiten haben die Hefte, manchmal sind es sogar 40 Seiten. „Schöner lesen“ heißt die gelbe Reihe.

 

SuKuLTuR bietet Literatur an Orten, wo man sie nicht vermutet. Man erwartet schließlich die Bahn, nicht ein Buch. Und dann ist man verblüfft, unter Chips und Haribo auch ein kühles Buch wählen zu können. Anfangs gab es Probleme mit dem Papier, das in den Kühlvitrinen anfing sich zu wellen. Aber mittlerweile stehen die Hefte manierlich hintereinander im Schacht – jeweils fünf verschiedene. Die Bestückung der Automaten wechselt rasch. Denn man kauft vielleicht immer wieder den gleichen Schokoriegel, aber bestimmt nicht das gleiche Buch.

 

Die Idee für den eigenartigen Vertriebsweg entstand bei der Frage, wie man Literatur nicht etablierter Autoren unter die Leute bringt. Leserschaft und Nachfrage sind gering, wenn keiner die Autoren kennt. Was tun? Vor allem albern bleiben, eine scherzhaft rebellische Unternehmung wagen. Einen Verlag gründen. Eine sehr gute Website unterhalten, mit Namen satt.org. „Begeisterungsshows“ organisieren, zu Lesungen einladen und immer neue Lesehefte in Automaten stellen, für einen Euro. Digitaldruck heißt das Zauberwort für den niedrigen Preis. Digitaldrucke sind nicht so teuer wie konventioneller Buchdruck, man kann ganz kleine Auflagen drucken, ohne dass der Preis für das einzelne Buch explodiert.

 

Auch bei der Auswahl der Autoren arbeitet SuKuLTuR anders als die großen kommerziellen Verlage. Natürlich gibt es auch bei SuKuLTur ein Lektorat. Aber sie werden nach anderen Kriterien durchgesehen. Stipendien, Auszeichnungen und Literaturpreise sind wirklich etwas Schönes, aber hier muss man lediglich einen guten Text anbieten. Wie viele es davon gibt, lässt sich beim rasend anwachsenden SuKuLTuR-Programm nur erahnen. Die Schreibwut der Autoren ist nicht zu bremsen.

 

Die Art der Beiträge bei „Schöner lesen“ schwankt heftig. Schmuckstücke sorgfältig gesetzter Sprache stehen hinter oder vor zusammengedonnertem Mitteilungsbedürfnis. Dieses Durcheinander kurzer Texte ist lustig. Man lernt, seine Beurteilungskriterien zu schärfen und seine Vorlieben verteidigen. Die sehr unterschiedlichen Autoren sind Schriftsteller, Publizisten, Künstler, Autodidakten abseits des Mainstream.

 

Es sind bereits anderswo verlegte Helden wie Dietmar Dath mit dem Heft „Ein Preis“ oder die beiden schnatternden Fräuleins der „Berlin Bunny Lectures“: Nikola Richter schildert griechische Gefühle in nasser Wäsche und Mascha Kurz schreibt von einem Amoklauf nach den Regeln eines Catwalk und von einem Urlaub im Campingbus, der durch ein Rascheln im Schlafsack entsetzlich wird.

 

SuKuLTuR bietet außer den Leseheften noch anderes: Bildgeschichten, Tonträger, wissenschaftliche Abhandlungen und Videos. Aber nur die Lesehefte bekommt man am Automaten.

 

Nora Sdun

 

www.satt.org/sukultur/index.html