6. Dezember 2005

Stille und Kitschgeigen

 

Das Melodram hat heute keinen guten Ruf. Kitschig und ironiefrei, so der Vorwurf, sei sein Inhalt; übersteigert und gefühlsduselig seine Diktion. Zugleich ist das Melodram zweifelsohne der Stoff, aus dem die meisten Bücher und Filme sind – schließlich ist hier alles zu finden, was Menschen so bewegt, allen voran Liebesglück und Liebesleid, Krankheit und Selbstmord. Selten gelingt es aber angesichts dieser geballten emotionalen Wucht, das pathosgeladene Klischee zu vermeiden; sagt man heute Melodram, denkt man an „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ – und dann erst an „Vom Winde verweht“.

 

Christiane Neudeckers Erzählungsband „In der Stille ein Klang“ enthält mit wenigen Ausnahmen solche Melodramen, voll gepackt mit großen Gefühlen und Schicksalsmomenten: Die Ehekrise eines Klangdesigners für Autos, das ganze im heißen Dubai („In der Stille ein Klang“), eine Frau und ein Mann, frisch voneinander getrennt, die, ohne voneinander zu wissen, melancholisch durch Paris schlendern und sich dabei fast wieder begegnen („Paris irgendwo“), ein Mädchen, bei dem Brustkrebs diagnostiziert wird („Nachtschattengewächse“), eine Frau, die nach der Abtreibung zu einer letzten Skitour aufbricht („Weiß wie Schnee“) …

 

Es ist eine nüchterne, klare Sprache, in der die Geschichten geschrieben sind, manchmal „schnörkellos und schön“, wie Gregor Hens auf dem Buchrücken schreibt – aber oft in ihrer Stakkato-Hauptsatz-Atemlosigkeit auch hysterisch: „Ich habe meine Ohren mit Baumwolle betäubt und meine Hände verhüllt. Ich werde in mein Auto steigen. Ich werde bleiben. Ein Urlaub. Eine Zeitspanne. So war es gedacht. Bleiben ist einfach. Vielleicht. Wohin sonst.“ Oder, wohlgemerkt in einer anderen Erzählung: „Ich schlängle mich um das Ortsschild, fixiere den roten Querbalken über der Schrift: hier endet. Zurück: hier fängt an. Nicht heute. Heute trabe ich über die Linie, den Blick gesenkt. Spüre, dass ich schneller werde. Kenne die Zeit nicht. Der Bus, der letzte. Kommt wann?“ Beim ersten Lesen klingt das einigermaßen originell; nach mehr als zwei Erzählungen ist es nur noch nervend.

 

Ähnlich verhält es sich mit dem Inhalt der Erzählungen. Manchmal zeigt Christiane Neudecker, Jahrgang 1974, dass sie etwas kann, was selten geworden ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Eine ungewöhnliche Geschichte komplex und dabei doch spannend zu erzählen. Wo dies gelingt, wie in der über 50-seitigen Titelgeschichte oder in „Sauerstoff“, der besten Erzählung des Bandes, braucht die Autorin den Vergleich mit Hens oder aber auch Murakami nicht zu scheuen. Gern gibt man sich dann dem Sog des Melodrams hin. Angesichts des großen Restes des Buches, der entweder aus befremdlichen Geschmacksverirrungen besteht, wie die Adam-und-Eva-Travestie in „Das Ende vom Anfang“, oder wie „Judith Hermann, später“ klingt, hätte man sich dann allerdings doch ein bisschen mehr Stille und etwas weniger Kitschgeigen gewünscht.

 

Die sprachliche und erzähltechnische Experimentierfreudigkeit des Buches mag manchmal zu solchen Abstürzen führen; dass „In der Stille ein Klang“ aber beides zumindest wagt und zugleich nicht den melodramatischen Ton scheut, unterscheidet das Buch positiv von all den heißen Sommern, Islandreisen, Sexabenteuern auf dem Sozialamt und Haushälterinnen, die dieses Jahr die meisten jüngeren Autoren hierzulande beschäftigt haben.

 

Thomas von Steinaecker

 

Christiane Neudecker: In der Stille ein Klang. Luchterhand 2005

 

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