3. Dezember 2005

Invertierte Utopie, Ausstellung Neuro Color im Harburger Kunstverein

Die zwei unteren Bilder sind aus der Ausstellung "Summer of Love" in der Frankfurter Schirn

 

Diese Dinge sind von Welt, aber von welcher? Also, bereits am Anfang schon: kleine Krise der Repräsentation. Der Ärger kann sofort losgehen mit dem alten Dualismus vom kompositorischen Ganzen gegenüber den einzelnen Bestandteilen, dem Individuellen und der Konfektionsware. Die Serialität der Bildbestandteile erzeugt jedenfalls einen Zwang, Dinge zu benamseln, und beim Abzählen der Kolonnen von Wurst und Käse auf den riesen Plots gerät das große Ganze natürlich aus dem Blick.

 

Der Bierschinkenstil ermöglicht dem Künstler (wie jedem Maler), mit einer für den Betrachter zwar unübersichtlichen, aber endlichen Auswahl an Aufnahmen, die aus der Außenwelt stammen, am Computer vier, ganz unterschiedliche Blätter zur katastrophischen Situation der Selbstwahrnehmung zusammenzustellen.

 

Die Kompositionen von Oliver Ross sind durchstrukturiert, mit Ballungen, räumlichen und flächigen Bemusterungen versehen, wie bei Malerei der letzten Jahrhunderte üblich. Die Farbigkeit ist allerdings wie draufgehauen und drogengeschluckt in den 70ern. Im Unterschied zu heute schwülstig wirkenden Vintageprogrammen Prilblüten und Regenbogen, sind die Bildspender bei Oliver Ross ganz Gegenwart: verschweißter Bierschinken, Toastscheiben und Wasa-Knäcke mit Plattenbau und Ottomotor.

 

Wüst sind die Bildprogramme der Werbetafel-großen Plots, auch der Paravent aus Relieftafeln schmeichelt nicht dem Auge, wohl aber der Hand. Einmontierte Klodeckel, Birkenstocksohlen und Teppichstücke wetteifern um haptische Beachtung und neuronale Verarbeitung. In der Ausstellung "Neuro Color" im Kunstverein Harburg kann man für zwei Minuten viel Neonfarbe und Musterspektakel sehen, Drogen-, Farb-Rausch, also nichts sehen, es nur so wummern lassen oder stehen bleiben und warten, bis sich das Auge an die empörende Buntheit gewöhnt hat, bis man erkennen kann, was so vieltausendfach grell von den Bildern herunterbrüllt.

 

Zum Vergleich stehen rechts auch Abbildungen der aktuellen Ausstellung der Frankfurter Schirn „Summer of Love“ (bis 12. Februar 2006), 60/70er Psychedelik-Plakate und Plattencover mit anderem Fokus, nämlich der Illustration eines innigen, blumig-utopischen Lebensgefühls.

 

„Wurst im Getriebe“ heißt eines der Bilder von Oliver Ross, und das ist nicht utopisch. Die Menschheit hat das Getriebe, in das sie gerät, Chromglänzendes mit erbarmungslosem Energieverschleiß, mit dem Bregen im Kopf, der Wurst, die vorher zur Versorgung des Hirns eingenommen wurde, selbst erzeugt. Man bewegt sich, selbst wenn man verunglückt ins Getriebe gerät, mitten in Hirnprojekten, die in die Außenwelt gesetzt zu zerfleischenden Maschinen werden.

 

Wenn die Welt ein Gehirn ist, wenn die Welt, an der man zerscheitert, wenn man selbst das virtuelle Produkt eines sterblichen, von der Konsistenz wurstartigen, von der Optik kohlartigen Gebildes ist, was dann ... Das heiß nicht, dass man besser Vegetarier würde, es passiert auch, wenn man Käse, Eier oder Soja zu sich nimmt. Wenn die Welt ein Gehirn ist, wird man den Glauben an seine sorgfältig gepflegte, private Innenwelt aufgeben müssen, weil man zugeben muss, innen ist nichts, nur Bregen. Das hirnentsprungene Getriebe ist außen, und dort gerät man hinein, und zwar umso unverhoffter, je inniger man sich gebärdet.

 

Solange alles gut geht, ist man, wenn man es mit den Worten des Philosophen Günther Anders sagt, nichts weiter als ein „Objekthirte“. Man bedient Geräte und korrigiert von Zeit zu Zeit die Einstellungen. „Wir sind invertierte Utopisten. Dies also ist das Grund-Dilemma unseres Zeitalters: Wir sind kleiner als wir selbst, nämlich unfähig, uns von dem von uns selbst Gemachten ein Bild zu machen. Insofern sind wir invertierte Utopisten: Während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.“ (Günther Anders: Die atomare Drohung) Der Mensch ist, gemessen am Standard seiner Produkte, als Einzelner unwideruflich und sterblich. (Serien machen nervös, in Bildern wie bei Konfektionsware.) Mensch humpelt also seinen Produkten hinterher, empfindet sich als mangelhaft und flieht deshalb gern romantisch Richtung Innenwelt, in Verleugnung der dort wirklich einzig anzutreffenden Fleischmassen. Man ist, wie Ross formuliert, „das virtuelle Produkt eines sterblichen Bioapparats“ und mag es nicht fassen.

 

Oliver Ross erweitert die Möglichkeiten des kurzsichtig, romantischen Objekthirten in Richtung Schautafel, Überblick und Assoziation aller möglichen Bestandteile, nicht ohne dabei zu verwirren. Artefakte werden gesammelt, gescannt, bearbeitet und zu Bilderbögen montiert. Strumpfhosen über Damenbeinen winkeln sich zu sonnigen Hakenkreuzen. Die Wohnwabe mit Cervelatwurstdach unterm Atompilz wird gerahmt von Schokoladenplatten und Fahrradständern. Brot und Butter, Arp und Fettecke (Versorgungsdeterminanten für Künstler). Ergebnis ist „ein schrecklich ernst gemeinter, großer und detailverliebter Riesenscherz zu unserer so genannten Innenwelt, makrobiotisch komponiert und mikroidiotisch durchgestylt“. Was man sich vorstellt und was einen umstellt und herstellt, ist auf den Bildern unentwirrbar miteinander verschlungen. Von Innen und Außen ist lang keine Rede mehr.

 

Dass man dann Bissspuren in den Bildträgern findet, ist nur beruhigend. Homo Faber beißt sich weiter durch. Was soll man sonst machen? In den Tisch beißen - Kunst!

 

Das, was Ross herstellt, ist weiterhin schwer vorzustellen, aber weil es Kunst ist, sind die Bilder und Objekte selbst in erster Linie eine zu betrachtende Vorstellung, die zwecklos bleibt. Man kann nicht ihr Objekthirte sein. Es sind keine Maschinen. Damit garantieren sie den Status eines Ichs als Kunstliebhaber, der sich nicht vor dem Ich als Maschine schämen muss.

 

Nora Sdun

 

www.netsamurai.de/netplanet-harburg/kunstverein-info.htm