22. November 2005

Die Seligkeit der Utopie

 

In diesem Stück, wie „Die Besessenen“ eines über Terrorismus, stehen phantastische Sätze. Der Leser bzw. Zuschauer darf den letzten Augenblicken vor dem zunächst scheiternden Attentat auf den russischen Großfürsten beiwohnen. Terroristen unter sich. Eigentlich könnte man sich fragen, warum da überhaupt noch geredet wird. Sollte nicht schon alles klar sein? Aber auch Terroristen sind nur Menschen, allerdings auf dem Weg zu Nur-noch-Terrroristen, und das sind dann eben „Die Gerechten“. Hartes Los. Da kann schon mal Pathos aufkommen. Wie zum Beispiel bei dem Ultra-Hardliner Stepan: „Die Freiheit ist ein Gefängnis, solange ein einziger Mensch auf Erden geknechtet ist.“ Gut gebrüllt, Löwe, so ähnlich hat das auch Löwe Brecht gesagt in einem seiner Stücke. Menschen mit Utopien.

 

Schon etwas raffinierter ist die Rede eines anderen, der zu lügen gelernt hat: „Gewiss, ich verstelle mich. Aber am Tag, da ich die Bombe werfe, werde ich aufrichtig sein.“ Das klingt ja sehr nach Lügenparadox. Aber eben, das ist genau das Problem dieser Leute, sie reden sich um ihre vorgebliche Unschuld. Jeder Satz kann gegen sie verwendet werden. Und zwar egal, das ist eine Pointe des Stücks, ob sie mit Freund-Bruder oder Feind sprechen. In dem Moment, wo sie sich als Terroristen auf eine Idee reduzieren, spielt das Leben verrückt und schlägt zurück. Das gibt dann selbstvernichtende Sätze wie: „... ein echter Revolutionär kann sich selber nicht lieben.“ Oder die Rede gleitet ab ins Größenwahnsinnige: „Wir nehmen es auf uns, Verbrecher zu sein, damit die Erde endlich von Unschuldigen bewohnt wird.“ Oh, ihr Helden, ihr Märtyrer, aber wer hat euch eigentlich den Auftrag dazu gegeben? Kein Mensch, wohl aber eine schlimme Abstraktion: „Für die Idee zu sterben, ist die einzige Art, ihrer würdig zu sein. Das ist die Rechtfertigung.“

 

Der Leser/Zuschauer sieht dem Absterben vor dem eigentlichen Sterben schon vorher zu. Diese Sozialrevolutionäre, wie sie sich auch selbst nennen, begeben sich gewissermaßen in eigene Schutzhaft – vor ihren menschlich, allzumenschlichen Gefühlen, Wünschen – und vollbringen so eine Konzentrationsleistung, der am Ende sogar das Geschlecht zum Opfer fällt. Die Idee, also der Terror am eigenen Leib, kastriert den Sex. Nachdem Kaliajew als politischer Gefangener – er hat den Großfürsten mit einer Bombe beseitigt – den Heldentod gestorben ist, möchte es ihm Dora, die ihn liebte, diese Haltung aber aufgrund der dadurch entstehenden Dysfunktionalität aufgab, gerne nachmachen. Als sie den Wunsch äußert, als Nächste die Bombe zu werfen, sagt man ihr, dass man in der vordersten Reihe keine Frauen dulde. Worauf sie mit einem Aufschrei antwortet, völlig logisch: „Bin ich denn jetzt noch eine Frau?“

 

Aber wo keine Frau, da auch keine Männer. Worauf sich die Frage stellt, mit welchen seltsamen Wesen man sich während der Zeit dieses Stücks die Zeit vertrieben hat. Nun, vermutlich sind es Götter, die irgendwie den Erzengel Gabriel bestochen haben müssen, denn nichts Geringeres haben sie vor, als das Drehbuch Gottes zurückzudrehen und zum Stillstand zu bringen; das ist „die Revolution, die alle Übel heilen will, die gegenwärtigen und die zukünftigen.“ Ich aber möchte lieber als Mann leben, so übel ist das nicht. Jedenfalls überhebe ich mich dabei nicht.

 

Dieter Wenk (10.01)

 

Albert Camus, Die Gerechten, in: A. C., Dramen, übersetzt von Guido G. Meister, Hamburg 1980 (Rowohlt); Les justes