21. November 2005

Ohne Anschluss

 

Besessene sind nicht unbedingt Leute, die denken. Und wenn sie es trotzdem tun, gelangen sie zu eben den Paradoxa, die ihnen ihre Widersacher vorwerfen würden. Terroristen sind unbedingt besessen. Und wenn ihnen auffällt, dass uneingeschränkte Freiheit uneingeschränkten Despotismus zur Folge hat, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als eine Unterscheidung zu treffen, die ihnen despotisch die Freiheit gibt, einem Großteil der Bevölkerung eine Gleichheit aufzuzwingen, die nicht die ihre ist. Was beweist, dass Terroristen mit Paradoxa nicht umgehen können, da deren Entfaltungen schlicht nicht anschlussfähig sind. Eigentlich können sie nur kaputt machen. Bei dem Oberschurken Peter Werchowenski in Camus’ Dostojewski-Bearbeitung hört sich das so an: „Wir bereiten den Umsturz vor, Brände, Attentate, endlose Wirren, nichts verschonender Hohn. (...) O ja, das wird herrlich! Dichter Nebel wird sich über Russland herabsenken. Die Erde wird um ihre alten Götter trauern.“

 

Eine positive Vision hat er dabei nicht. Zwar geriert er sich als Erlöser, aber dahinter steckt reiner Zynismus: „Zuerst zerstören. Was nachher kommt, geht uns nichts mehr an.“ Interessant bei dieser Rede von „uns“ ist, dass das Gruppengefühl oder die Organisation als Gruppe in einem anderen Zusammenhang durch die Unterscheidung von Führer und terroristischen Gefolgsleuten unterlaufen wird. So heißt es etwa bei der charismatischen Figur des Nikolai Stawrogin bezüglich Werchowenskis: „Die anderen glauben, er sei der Abgeordnete einer internationalen Organisation, und darum leisten sie ihm Gefolgschaft. Er aber versteht es, sie in diesem Glauben zu wiegen. So entsteht eine Gruppe. Bloß wird er vielleicht eines Tages von dieser Gruppe aus die internationale Organisation schaffen.“ Klarer Fall von Simulation. Und insofern alles andere als dumm. Aber vielleicht sollte man das eher gerissen nennen. Solche Leute haben ja erst mal nur sich selbst und ihre Deppen. Und ihren Hass.

 

Stawrogin dagegen könnte man als den Dandy unter den Besessenen bezeichnen. Er sympathisiert mit ihnen, aber zum Anschluss steht ihm sein „ironisches Leben“ im Weg. Er kann nichts Ernst nehmen. Bis er selber Schuld auf sich lädt, indem er ein zwölfjähriges Mädchen verführt, das sich danach umbringt. Das ist sein terroristischer Akt, der ihm zeigt, dass es Grenzen gibt. Am Ende des Stücks wird das Terroristennest ausgehoben, der böse Peter allerdings schafft es, geruhsam erster Klasse über die russische Grenze zu entkommen. Was hätte er seinen Kumpanen noch mitteilen können? Bin flüchten.

 

Dieter Wenk (10.01)

 

Albert Camus, Die Besessenen, in: A. C., Dramen, übersetzt von Guido G. Meister, Hamburg 1980 (Rowohlt); Les possédés