19. November 2005

Die vorübergehende Unerträglichkeit der Fiktion

 

Dieser Film spielt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Politisch spielen die noch existierenden Nationen keine Rolle mehr. Die Welt wird beherrscht von einigen weinigen Wirtschaftskonzernen. Den Menschen geht es gut, einigen sehr gut, es gibt keine höheren Ziele mehr. Die Geschichte ist an ihr Ende gekommen. Auch im Kleinen gilt, dass Distinktion tabuisiert ist. Für die drohende große Langeweile gibt es als Spektakel das Spiel Rollerball, das in einer Arena stattfindet und bei dem zwei gegnerische Mannschaften aufeinander treffen. Es ist eine Mischung aus Rollschuhlaufen, Eishockey und Rugby. Jonathan E, der Mannschaftskapitän des Titelverteidigers der Weltmeisterschaft aus Houston, ist ein seltsamer Mensch. Er sieht gut aus, hat Erfolg bei den Frauen und spielt schon zehn Jahre in seiner Mannschaft. Er ist ein Held. Deshalb bekommt er Schwierigkeiten. Von ganz oben. „Ein einzelner Spieler darf nicht besser sein als das ganze Spiel.“

 

Als ihm nahe gelegt wird, dass er aufhören soll, versteht Jonathan das nicht. Beim nächsten Spiel, das Halbfinale der Weltmeisterschaft, werden die Regeln verändert. Es gibt keine Strafzeiten mehr. Das Spiel wird zusehends härter. Beim Finale – Houston gegen die Mannschaft aus New York – gibt es überhaupt keine Regeln mehr. Der zuständige Konzern hofft gewissermaßen, dass sich das Spiel von ganz alleine abwickelt, einfach dadurch, dass keiner lebend das Spielfeld verlässt, und damit auch Jonathan. In den letzten Einstellungen sieht der Zuschauer, wie der Held, nach einem gigantischen Gemetzel, die Spielkugel an sich nimmt, das Siegestor für seine nicht mehr bestehende Mannschaft erzielt und eine Kurve nach der anderen zieht. Er hat sich nicht unterkriegen lassen. Er hat mitgespielt, als man, also die Herrschenden, das schon gar nicht wollte. Am Ende herrscht Totenstille in der Arena. Für wen dreht dieser Sieger da seine Runden? Für dieses Spiel jedenfalls hatte er keinen Auftrag. In der letzten Naheinstellung sieht man einen Besessenen. Ihn, Jonathan.

 

In der deutschen Fassung des Videos liest man auf dem Klappentext: „Höhepunkte von ‚Rollerball’ sind atemberaubende Sequenzen in der Arena, mit packenden Actionszenen.“ Diesen Film hat die ARD am 22. September nicht ausgestrahlt. An seiner Stelle lief eine Komödie. Die Lust an solchen „packenden Actionszenen“ ist vielen Zuschauern in der Tat vergangen nach den Terroranschlägen in den USA. Weitaus beklemmender mochten demjenigen, der den Film jetzt als Video gesehen hat, aber vielleicht zwei Sequenzen erscheinen, die mit dem brutalen Geschehen in der Arena nichts zu tun hatten. In der einen sah man einer Gruppe junger, schöner und erfolgreicher Leute ein seltsames Spiel spielen. Mit Handfeuerwaffen bewehrt sah man sie, vor allem Frauen, auf Bäume zielen, die, getroffen, sofort in Flammen aufgingen. Übrig blieb von den Bäumen nur noch ein nacktes Gerippe. So ungefähr sah auch das kollabierte World Trade Center aus.

 

In der zweiten Sequenz sah man in einer gespenstisch lautlosen Aufnahme die Bilder mehrerer bekannter US-Gebäude. Das WTC war nicht darunter, aber ebenfalls ein Gebäude mit zwei hohen Paralleltürmen. In der halben Minute dieser Sequenz steckte nichts als Trostlosigkeit, Ende und Vernichtung. Wie viel mehr nachträglich. Wenn es aber real wieder so weit ist, darf die Fiktion wieder ins Schattenreich abtreten. Pendelverkehr.

 

Dieter Wenk (09.01)

 

Norman Jewison, Rollerball, USA 1975