18. November 2005

Avantgarde um 1800

 

Für Leute, die sich nicht scheuen, von Zeit zu Zeit einen Blick in die so genannte Goethe-Zeit zu werfen, die sich auch jetzt nicht schämen, einen Roman in die Hand zu nehmen, die nicht gleich Reißaus nehmen, wenn ein Roman in seinem Untertitel sich der Verwilderung bezichtigt, die sich nicht nur damit abfinden, sondern sich ein bisschen darauf freuen, dass der rote Faden der Handlung mehr oder weniger zerbrochen sein wird und Charaktere im kriminalistischen Sinn nicht zur Standardbevölkerung des Textes gehören, für Leser, die keine Angst davor haben, dass ein Roman sie mit in den Abgrund wirft, weil sie sich vielleicht daran erinnern, dass sie die Lektüre des „Don Quichotte“ ebenfalls lebend überstanden haben, die es dem Autor verzeihen, dass nur die eine Hälfte des Romans aus Briefen besteht, die die zweite Hälfte kommentiert und in der man erfährt, dass die Briefe, die man gelesen hat, nicht authentisch sind, sondern der redaktionellen Bearbeitung des Herausgebers Maria unterlagen, der selbst vor Ende des Romans stirbt und selbst zur romanesken Figur wird, für die, sich gerne und häufig von Gedichten die „Handlung“ unterbrechen, Tagebucheintragungen gefallen und sich auch nicht von Aphorismen

 

(„Es ist wahrhaftig nicht der Mühe werth, sich Mühe zu geben, die Sache bleibt ewig dieselbe; bohre ich ein Loch mit meinem Verstande in die Welt, so muss es sich des allgemeinen Gleichgewichts halber wieder zustopfen, und es ist recht unhöflich, die Natur der Dinge so zu bemühen.“)

 

die Laune verderben lassen, die am Ende der Lektüre feststellen mögen, so eine Art analytischen Roman gelesen zu haben, ihnen die Ibsen-Assoziation aber nicht sehr viel dabei helfen wird, aus dem, was sich am Ende der entwickelten Verwicklungen herausgestellt hat, mit irgendeiner „Tendenz“ verbinden zu können, für die, die mit Hedonismus etwas anfangen können und ihn auch auf die Sprache beziehen, die ihnen hier – vor allem im ersten Teil – als Arabeske vorgestellt wird, die sie also aus der Verpflichtung entbindet, alles verstehen zu müssen, wie auch die Briefeschreiber weniger miteinander zu kommunizieren scheinen, als dass sie sich in kunstvollen Monologen in eine ästhetische Selbstproduktion hineinbegeben, für all die, die es eher interessant als gewagt oder abwegig finden, eine gerade formulierte ästhetische Theorie (Friedrich Schlegels „romantische Universalpoesie“) auf eine literarische Produktion angewendet zu sehen und wo dabei nichts, aber auch gar nichts ausgelassen wird, für alle, die sich daran erinnern, dass diese Zeit nicht nur eine Goethe-, sondern auch eine Casanova-Zeit war und es auch in frühromantischen Werken durchaus Figuren gibt, die einfach hin und wieder einfach nur mal ficken wollen

 

(„Nun ja, ich möchte gern lieben, und geliebt werden, und ohne Noth und Angst, ohne Sorgen und Mühe, denn ich fürchte mich vor nichts mehr als der Zärtlichkeit, einen geschwornern Feind von der sentimentalen Welt können Sie sich nicht denken...“),

 

für alle Leser, für die die romanintern vorgebrachte Definition des Romantischen

 

(„Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt, ist romantisch.“)

 

keine bloß literaturwissenschaftliche Angelegenheit zu sein scheint, für alle mithin, die sich zugleich verzaubern und an der Nase herumführen lassen wollen, denen sei „dies Buch ohne Tendenz“ empfohlen.

 

Dieter Wenk (09.01)

 

Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Herz der Mutter. Ein verwilderter Roman, Stuttgart 1995 (Reclam)