16. November 2005

Parataktische Substitution

 

Manchmal merkt man nur an den Vokabeln, mit welchem Jahrhundert man es gerade zu tun hat. Vom bewussten Machen von Literatur sprachen sie beide, aber bei Edgar Allan Poe hieß das intentionale Gestalten noch ziemlich gediegen „Philosophy of Composition“, bei Viktor Sklovski, ein dreiviertel Jahrhundert später, schlicht „Kunst als Verfahren“. Natürlich gab es unter den Avantgarden Strömungen wie den Expressionismus, die immer noch auf das Ingenium setzten, die dargebotenen Innereien aber doch eine starke Zumutung waren. Eine Zumutung waren die anderen Ismen auch, nur eben anders, trockener, nicht so dahingekotzt.

 

Raymond Queneaus „Stilübungen“ (Exercises de style) sind bereits ein später Nachschlag auf jenes Bauprinzip „Kunst als Verfahren“, aber sie sind mit Recht so berühmt, weil sie so exemplarisch verfahren: Eine Grundsituation (ein lapidarer Ausschnitt aus einer Busfahrt), und ca. 50 Arten, diese Situation in unterschiedlichen Stilen zu formulieren. Hier kann man lernen, was Konstruktion heißt. Bereits ein paar Jahre vor Queneau legte Daniil Charms mit dem Stück „Jelisaweta Bam“ (1927) die Karten des Bauens auf den Tisch; allerdings spielte Charms keine Grundstruktur durch, sondern zitierte verschiedene, bereits im Titel verfremdete Genres, durch die er eine Anfangssituation quasi handlungsmäßig durchlaufen ließ.

 

Quasi deshalb, weil durch die Parataxe der immer nur kurz anzitierten Genres (wie zum Beispiel „Realistisches Melodrama“ oder „Realistische Komödie“ oder „Naiv komischer Kitsch“ oder „Radix – Rhythmus“ – so die Titel der ersten von 19 durchgespielten Modellen) jede Handlung im Ansatz unterlaufen wird. Je nach Genre verändern die Charaktere ihren Charakter, der dadurch kein Charakter mehr ist, sondern eine Disposition, ein Material, das sich dem übergeordneten Imperativ des (peripheren) Modells unterordnet. Kaum dass die Titelperson im Melodram in einer schier ausweglosen Situation ist und in die Fänge zweier Häscher zu geraten droht, zieht sie in der Komödie selbstsicher die Fäden und spielt die eben noch drohenden Gestalten gegeneinander aus.

 

Das Ganze ist also ein großer Unsinn, gemessen an traditionellen Entwicklungen 3- oder 5-aktiger dramatischer Bauten. Aber natürlich war das Absicht. Charms und seine Freunde der Oberiu (Gesellschaft für realistische Künste), zu der etwa Nikolai Sabolozki, Igor Bachterew und Boris Lewin zählten, hielten nicht sonderlich viel von der Theaterideologie der Katharsis (mit der ja noch Artaud klotzte), sondern plädierten für ein Theatereignis, das „seine eigene Sujetlinie und eigenen szenischen Sinn hat, (…) dessen einzelne Elemente für sich existieren, (…) ihren eigenen Wert behalten und sich nicht dem Schlag eines Theatermetronoms unterwerfen“. Als Zuschauer musste man also damit rechnen, dass „ein Schauspieler, der einen Minister darstellt, plötzlich auf allen vieren über die Bühne läuft und wie ein Wolf heult oder ein Schauspieler, der einen russischen Bauern darstellt, eine lange Rede in Latein hält“.

 

Dieses para-dadaistische Programm war natürlich überhaupt nicht dazu angetan, das mit den Jahren immer schlichter werdende ästhetische Kunstwollen der herrschenden Moskauer Politköpfe zu befriedigen. Schon Lenin hatte ja keinen Bock auf Avantgarde gehabt. Charms wurde Anfang der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts verhaftet, er starb im Gefängnis.

 

Dieter Wenk (11.05)

 

Daniil Charms, Jelisaweta Bam, in: Russische Stücke 1913-1933, hg. von Fritz Mierau, Berlin 1988 (Henschel), S. 197-233