15. November 2005

Propaganda und Seele

 

Wenn die Seele tot ist, liegt das entweder daran, dass sie gestorben ist oder der betreffende Körper sie niemals besessen hat. Tiere galten zum Beispiel lange als seelenlose Automaten, Descartes wollte das im 17. Jahrhundert herausgefunden haben. Um 1900 machte ein sonderbares Wesen Tier und Automat Konkurrenz in Sachen Seelenlosigkeit. Der Mensch. Der Geist, auf den dieser immer so stolz gewesen war, hatte sich in den Augen mancher anheischig gemacht, ein Widersacher der Seele zu werden. Außerdem: Einen Kapitalismus ohne Geist konnte man sich nicht vorstellen, aber einen Kapitalismus ohne Seele? Warum nicht? War diese Entkoppelung nicht gerade Voraussetzung kapitalistischer Entwicklung?

 

Bevor jedoch der Westen als kauflustiger Seeleninteressent in Platonows Farce „Leierkasten“ auftaucht, lernt der Zuschauer oder Leser erst einmal Kusma kennen, einen Eisenmenschen, der im Gefolge einer Mini-Kulturarbeitergruppe dazu abgestellt ist, den unterhaltungsbedürftigen Sowjetmenschen mit antikapitalistischem Brimborium zu versorgen. Dass Kusma von Zeit zu Zeit in die andere Richtung losschießt oder die Systeme lustig vermischt, gehört zum Wesen der seelenlosen Apparatur oder ist der Tatsache geschuldet, dass auch Maschinen nur menschlich-allzumenschlich sind.

 

Das Stück spielt 1933, und gleich zu Anfang erfährt man, dass der Sozialismus immer noch nicht im Land der rezenten Revolution angekommen ist. Aljoscha und Injuta, die beiden jungen Kulturarbeiter, wollen ihn, den Sozialismus, deshalb erlaufen. Großartig lakonische Dialoge zeigen die Ausweglosigkeit dieser Suche an. Erreicht wird schließlich nicht der Sozialismus, sondern eine ganz reale Genossenschaft in einem abgelegenen Bezirk, in dem das Chaos herrscht, mit mehr oder weniger Fassung aber noch der größte Dreck ertragen und als Etappe auf dem Weg zum Ziel definiert wird.

 

Dass man aber hier mit allen Wassern gewaschen ist, zeigt die Reaktion auf den Besuch aus dem Westen in Gestalt eines dänischen Professors mit dem bezeichnenden Namen Eduard-Walküre Hansen Stervetsen und seiner jungen Tochter, die darauf aus sind, die „Aktivistenseele“ der UdSSR für Westeuropa zu erwerben. Genau, die schöne Einheit aus Basis und Überbau, die man dem Osten unterstellt (Stervetsen: „Bei euch ist die staatliche Stille organisiert und darüber steht der… Turm der zugehörigen Seele.“), gibt es im Westen nicht, weil das Feuer erlosch. Stervetsen: „Der Überbau! Das ist der Geist der Bewegung im Herzen der Bürger, die Wärme über der Eislandschaft eurer Armut. Der Überbau! Wir wollen ihn in euerm Reich kaufen oder eintauschen gegen unsere traurige, exakte Wissenschaft. Bei uns in Europa gibt es eine Masse niederer Materie, aber das Feuer im Turm ist erloschen. Der Wind rauscht ungehindert in unserem trauernden Herzen und über ihm ist kein Überbau der Begeisterung. Unser Herz ist kein Aktivist, es ist – wie heißt das bei euch – ein Leisetreter.“

 

Natürlich kommt, was kommen muss, der Professor lässt sich linken, verliert seinen Koffer mit den schönen Klamotten, die nun die unterstellten Sozialisten tragen, Stervetsen bekomm auch nicht den Hauptsatz, die „Seele“, sondern lediglich ein unwichtiges Unterprodukt sowjetischer Planmisswirtschaft. Außerdem verliebt sich die Tochter in Aljoscha, die Verkörperung des Sozialismus, bis der gute Kulturarbeiter sich selbst denunziert, nachdem er gemerkt hat, dass er in Kusma, dem sozialistischen Plappermaul, einen Wolf im Schafspelz mit sich geführt hat. Am Ende der großen Enttäuschungen steht ein Liquidierungsbefehl: Der ganze Ort samt Genossenschaft müsse geräumt werden. Diesmal liegt es nicht am Überbau, sondern gewissermaßen am Unterbau. Dort wartet nämlich Gas darauf, gefördert zu werden. Und so entfällt auch im hoffnungsfrohen Osten die Förderung der Herzen. Europa weint. Immerhin. Und: schönes Stück.

 

Dieter Wenk (11.05)

 

Andrej Platonow, Leierkasten, in: Russische Stücke 1913-1933, hg. von Fritz Mierau, Berlin 1988 (Henschel), S. 299-365