13. November 2005

Der Diskurs

 

„Avantgarde und Alltag“ heißt es im Untertitel. „Monarchie und Wochenende“ oder „Mainstream und Ferien“ könnte es auch heißen. Würde das einen Unterschied machen? Außer der verlorenen Alliteration? Warum nicht Pop und Prälatentum? Avantgarde und Alltag ... Der Titel soll vielleicht darauf hinweisen: Hier wird die Speerspitze des künstlerischen Ausdrucks auf (Alltags-)Tauglichkeit überprüft? Stiftung Warentest winkt mit neuen Prädikaten? Das Buchcover zeugt davon: Alle haben schon die Lampen gelöscht. Nur einer sitzt noch am Schreibtisch und hält Wache im Glaspalast des Kulturbetriebs. Ist es Diedrich Diederichsen persönlich? Soll einem das suggeriert werden? Das sind blöde Fragen, ausgelöst durch ein unpassendes Cover.

 

Diedrich Diederichsen ist mir schon einer. Wenn Klappern zum Handwerk gehört, hat hier jemand seit über einem Vierteljahrhundert Schüttelfrost und sitzt direkt unter den Deckeln of trash can alley. Die 62 von 2000 bis 2004 in der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ veröffentlichten Kolumnen liegen in diesem Band noch einmal gebündelt vor. Ihnen vorangestellt wurde ein 17-seitiges Vorwort, das vieles von dem beinhaltet und zur Sprache bringt, was heutzutage im Musikjournalismus und den dafür sich zuständig fühlenden Medien („die Organe der allgemeinen, kulturellen Öffentlichkeit“) stört, nervt, schwierig ist und noch mehrmals gesagt werden muss(te). Das ist, um ein altes Wort aus dem Vokabular von Zeit, SZ und FAZ zu bemühen, „sehr löblich“. Welcher Schreiber wüsste nicht davon zu berichten? Diederichsen macht es. Dieses „in time zur Kenntnis nehmen“ der Bedingungen des Über-Musik-Schreibens in veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen. Das Musikzimmer als bürgerliche „Einrichtung“ und als Rückzugsort wäre in den 80ern vielleicht eskapistisch genannt worden ...

 

Für einen wie mich, der als Leser von Sounds und Spex mit Diedrich Diederichsen aufgewachsen ist und einen Großteil der Identitätsbildung im polit-ästhetischen Zusammenhang suchte, emotional agierte und damit die mannigfaltigen Teufelsein- und -austreibungen des Großkritikers am eigenen Leib mitgemacht hat – wie oft lag man nach der Lektüre von SPEX in den 70ern und 80ern schlaflos im Diskurs verstrickt tagelang wach und rückte seine Welt neu auseinander und zurecht, um mit der nächsten Ausgabe komplett neu demontiert zu werden ... ein Spießrutenlauf für einen Statiker, dem Gedichte von Benn und Brinkmann zu einer Art Seeleninventar gehör(t)en als „ewige Werte“ – ist es heute interessant zu sehen, wie der Autor, auf die 50 zugehend, viele Aussagen, wenn schon nicht revidiert, sie dann doch im Sand verlaufen lässt, sich um die Provokationen und Axiome von gestern nicht kümmernd, einen anderen, gemäßigteren Ton anschlägt, sich vor dem Jazz verneigt (was er damals auch schon tat), der Bildenden Kunst zuwendet und oft geradezu versöhnlich klingt. Verglichen mit anno dazumal, wo man ihn für seine Inkonsequenz und Härte verfluchte. Sein Prinzip: Ausgrenzung.

 

Noch immer arbeitet Diederichsen mit Provokationen, manchmal willkürlich scheinenden Axiomen und seltsam verknappten Role Models und Identitätsentwürfen, die er gegeneinander ausspielt. Manchmal erwächst aus einer Behauptung ein ganzer (Volks)stamm, der einem eine Kriegserklärung entgegenschleudert. Das war so. Und ist heute seltener geworden. Man kann sich von Diederichsens Besprechungen anregen oder irritieren lassen. Oft legt er den Blick frei auf Zusammenhänge, die so noch nicht nebeneinander lagen und ermöglicht neue Schlüsse. Sinngemäß: Es geht nicht darum, den Diskurs zu repräsentieren, sondern ihn auszulösen.

 

Neulich wurde in einem dieser Musiksender der Ruf laut nach einem Harald Schmidt für die Pop-Musik, der uns den Weg weisen soll. Was für ein Unsinn! Den hat es schon vor Harald Schmidt gegeben. Und er war besser, effektiver, ärgerlicher und bewegender.

 

Diederichsen hat ein bis drei Generationen von Dissidenten in den musikalischen Untergrund gelockt. Manch einer hockt da noch heute. Von dort aus: wohin eigentlich? Ins Alter?

 

Carsten Klook

 

Diedrich Diederichsen: Musikzimmer, KiWi Paperback 2005

 

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