1. November 2005

Heizungslehre

 

Wie kaum ein Schriftsteller seiner Zeit war sich Friedrich Schiller der strukturellen Unvollständigkeit von Texten bewusst. Der Leser war die Stelle, die der Text selbst nicht gleich mit erzeugen konnte. Erst der den Text in sich aufnehmende Rezipient wies dem Gelesenen die Richtung. Dabei war Schiller die Manipulationsmöglichkeit von Literatur oder Geschriebenem überhaupt völlig klar. Die dabei bemühten rhetorischen Finessen sind speziell bei Schiller eingebunden in eine Lehre des Temperaturunterschieds zwischen Autor (bzw. Held der Erzählung) und Leser. Den Leser stellt sich Schiller – wie schon in der Rahmenreflexion zur Anekdote „Eine großmütige Handlung, aus der neusten Geschichte“ – wenn nicht als kaltblütig so doch als einen Kaltblütler vor, dem es warm ums Herz werden solle, um so den idealischen Effekt durch Lektüre mit ins Leben übernehmen zu können.

 

In „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ argumentiert Schiller allerdings genau umgekehrt. Wer den (kalten) Leser unvermittelt in die Hitze der Erzählung hineinziehe, zerstöre die Beziehung zwischen dem Helden und dem Leser, da es kaum noch Vergleichbares zwischen beiden gebe und der „große Endzweck“ der ganzen Veranstaltung, nämlich der erfolgreiche Durchgang durch die „Schule der Bildung“, gänzlich verfehlt werde. Vielleicht, so Schiller, gelinge es dem Leser, einzusteigen, aber die Beendigung der Lektüre würde ihn sofort wieder mit der Kälte der Normalität konfrontieren, und das Lesen würde als bloßer Effekt enttarnt. Statt Erhitzung empfiehlt Schiller somit Erkältung: Der Held der Geschichte muss auf das Temperaturniveau des Lesers gebracht werden, auf die Gefahr hin, dass die Story an Spannung verliert und ihren analytischen Anstrich zu erkennen gibt. Die Aufgabe des Schriftstellers ist dann, dass doch wieder Bewegung ins Spiel kommt.

 

Denn nichts weniger als der Kältetod interessiert Schiller. In „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ erzählt er eine „wahre Geschichte“, deren Ende der Leser, bevor die eigentliche Erzählung einsetzt, schon kennt und die durch das Erzählen eine andere Wendung bekommen können soll. Der Leser liest als von Schillers Rahmenerzählung instruierter Leser, der sich nun seinen eigenen (natürlich von Schiller intendierten) Reim darauf machen soll. Die Erzählung schreitet voran, als ob sie gnadenlos von einem mechanischen Räderwerk angetrieben würde. Ein Schritt folgt dem anderen, es gibt tatsächlich keine „Lücke“ zwischen den Ereignissen bzw. zwischen dem Leser und dem Held als Verbrecher, dem Gastwirtssohn Christian Wolf (aufgrund des oben beschriebenen Temperaturunterschieds). Wie determiniert die Dinge aber auch immer sein mögen und wie „gerecht“ eine Strafe in dem jeweiligen Fall auch immer sein mag, die Schuld, so Schiller, ist nie auf eine einzelne Person zu begrenzen. Schiller weitet den Blick auf eine Art Faktorenanalyse, auf die jeweiligen Umstände der Tat(en), auf möglicherweise irrationale Entscheidungen des Täters, auf den Zufall, dessen Ausbleiben die Zukunft des Täters ganz anders hätte gestalten können.

 

Die „verlorene Ehre“ ist somit abhängig von einem irrationalen Kalkül, dessen Regeln sich noch nicht in einer charakterologischen Taxonomie niedergeschlagen haben. In den Worten Schillers: „Es ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes, das menschliche Herz.“ Wie weit man allerdings mit Schillers Temperaturlehre bei der anvisierten „Leichenöffnung des Lasters“ kommt, sei dahin gestellt. So digital, wie Schiller glaubt (kalt-warm), funktioniert der Leser dann doch nicht, und der Stoff im Medium des Gelesenen schon gar nicht. Die Geschichte selbst funktioniert natürlich auch ohne die „Lehre“.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, in: Schillers Erzählungen, Leipzig 1963 (Insel), S. 10-43