31. Oktober 2005

Fiktionale Verluste für reale Gewinne

 

Herzbildner und Seelenerweiterer haben es schwer. Jedenfalls wenn sie Literaten sind und, wie Friedrich Schiller, nicht bloß unterhalten, sondern den Leser gestärkt (geimpft) in die Alltagswelt entlassen wollen. Schiller ist sich der getrennten Sphären von Roman oder Schauspiel und der Wirklichkeit völlig bewusst und damit der Kalamität, dass ein Leser-Engagement im Idealischen absolut konform gehen kann mit der kalten Schulter, die man dem Bedürftigen in der wirklichen Welt zeigt. Der Klassiker kommt damit auch einem später formulierten Argument Büchners gegen den Idealismus (im „Lenz“ von Lenz artikuliert) zuvor; der Teufel sei immer dabei, wenn der idealistische Autor gelesen wird, denn jener untergräbt für den Moment der Lektüre die leistungsethisch einzufordernde moralische Zurechnungsfähigkeit des lesenden Schwärmers und macht ihn für die Wirklichkeit untüchtig. „Wir schweben hier gleichsam um die zwei äußersten Enden der Moralität, Engel und Teufel, und die Mitte – den Menschen – lassen wir liegen.“

 

Es wäre fatal, wenn dieser Satz, am Ende des ersten Teils des Rahmens dieser kurzen Erzählung platziert, das letzte Wort behielte. Denn nur um den Menschen geht es doch letztlich. Der Literat muss also zusehen, wie er mit dieser unerfreulichen Lage zurande kommt. Schiller zieht die beiden Bereiche zusammen und kann so dem Leser auf ein und demselben Terrain mit seinem Leistungsprinzip kommen; stolz verkündet er im zweiten, nunmehr positiven Teil des Rahmens, dass die „Anekdote“, die er erzählt, „ein unbestreitbares Verdienst“ habe, sie sei nämlich wahr. Und er benennt zugleich den Feind (Teufel), vor dem es Abstand zu nehmen gelte: Autoren wie Richardson, Bücher wie „Pamela“. Literatur müsse wie eine Heizung des Herzens funktionieren, die nach Beendigung der Lektüre vom Leser selbstständig auf dem von der Geschichte erreichten Pegel aufrecht erhalten werden können solle. Nur so könne man dem Teufel die eigene Hölle heiß machen.

 

Die Anekdote nun, die Schiller zum Besten gibt, ist tatsächlich erschütternd, aber auf eine Weise, dass es dem Leser einerlei ist, ob diese Geschichte nun stattgefunden hat oder nicht, denn was hier im Titel als „großmütige Handlung“ oder im Text als „Edelmut“ bezeichnet wird, wohnt in Gefilden der Seele, für die dem modernen Menschen jedes Verständnis abhanden gekommen ist. Genauer gesagt: Es geht ziemlich teuflisch in dieser Anekdote zweier Brüder, die die gleiche Frau lieben, zu, und der verallgemeinerte Opfergang, zu dem die drei Parteien auf welchen Schmerzensniveaus auch immer fähig sind, kündet von einer Fähigkeit der Trennung des Selbstes von sich selbst, dass einem eigentlich Angst und Bange werden muss um die Bewerber um die sittliche Goldmedaille. Beim Thema „Selbstüberwindung“ mag keiner und keine zurückstehen. Die junge Frau sagt nicht, wen sie lieber mag, zwischen den Brüdern findet kein Duell statt, das Duell wird vielmehr in das jeweilige Herz des Liebenden gelegt, auf dass hier die entscheidenden Kämpfe gefochten werden, deren Resultat jede überindividuelle Auseinandersetzung überflüssig machen. Der ältere Bruder, der anfänglich vermeintliche Sieger im Streit zwischen Pflicht und Neigung, nimmt als erster das harte Los auf sich und versucht, in der Fremde die Geliebte zu vergessen. Es will ihm nicht gelingen, „halbverwest, ein wandelndes Gerippe“ sinkt er in die Arme seiner Braut, die sie noch nicht sein darf. Dann zieht, so war die Vereinbarung, der Jüngere in die Fremde, ins „mütterliche Asien“, wo er „glücklich“ (welch ein Euphemismus, Herr Schiller) ankommt.

 

Eigentlich hält auch er es nicht aus, aber er will seinen Bruder auf einem Gebiet schlagen, das ihn auf einem anderen als Verlierer entlässt, dem Feld der Liebe. Der ältere Bruder heiratet also die Begehrte, aber schon nach einem Jahr der „seligsten der Ehen“ stirbt die Frau, um ihrer Vertrautesten „das unglückseligste Geheimnis ihres Busens“ zu verraten, dass sie nämlich den Jüngeren mehr geliebt habe. Der Ältere heiratet wieder, der Jüngere bleibt Junggeselle, und das Herz des Lesers ist schockgefroren ob der anekdotisch verabreichten Rabiatheit.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Friedrich Schiller, Eine großmütige Handlung, aus der neusten Geschichte; in: Schillers Erzählungen, Leipzig 1963 (Insel), S. 5-10