29. Oktober 2005

Das unverzichtbare Kilogramm

 

Das „Metzler Film Lexikon“, das jetzt in einer aktualisierten und erweiterten 2. Auflage erschienen ist, versammelt in einem gewichtigen und kompakten singulären Band gut 500 Filmkritiken von den Anfängen der Filmkunst bis zur Gegenwart. Schwerpunkt ist nach wie vor der europäische und der US-amerikanische Film. Besprochen werden die besten, interessantesten, einflussreichsten und berühmtesten Filme in alphabetischer Ordnung nach dem Originaltitel (worauf im gegebenen Fall deutsche Titel verweisen), jeder Artikel besteht aus einem Kopf, in dem Filmtitel, Regisseur, Produktionsland und -firma, Entstehungsjahr, Filmformat und -länge, Drehbuchautor(en), Ausstatter, Cutter, Monteure sowie Schauspieler mit Rollen genannt werden, darauf folgt die eigentliche Besprechung, den Abschluss des Artikels bildet eine konzise Auswahl an Sekundärliteratur. Im Anschluss an die Besprechungen findet der Leser ein knapp 10-seitiges Glossar wichtiger Filmtermini (wie Schüfftan-Verfahren, Plansequenz, Match-Cut), eine Bibliografie (Lexika, Filmtheorie, Filmgeschichte etc. und Literatur zu den wichtigsten Regisseuren) sowie abschließend ein Namensregister zu Regisseuren und Schauspielern, die in diesem Lexikon Erwähnung finden – all das auf knapp 800 Seiten.

 

Das Lexikon kann gleichermaßen zur Vor- wie zur Nachbereitung benutzt werden, es geht in allen Artikeln über eine bloße Nacherzählung des Films hinaus, liefert Informationen zu Entstehungs- und/oder Produktionsbedingungen, situiert den Film im Rahmen des Filmschaffens des Regisseurs bzw. im Kontext eines Genres, bietet Reaktionen von Presse und Publikum zu unterschiedlichen Zeiten der Rezeption auf den Film und bietet in jedem Fall Informationen an, die der Zuschauer dem Film nicht unmittelbar ablesen kann. Genau deshalb greift man ja zum Lexikon, das den wichtigsten Einstieg in nach Tiefe und Breite unabschließbare Hintergrundinformationen bereitstellt. So erfährt der Leser (und eben nicht schon gleich der Betrachter des Films), warum Chaplins „A King in New York“ in Europa lange Zeit unterschätzt, weil nicht richtig verstanden wurde. Die Farben in Max Ophüls „Lola Montès“ können dem Zuschauer selber nicht mitteilen, welches Schicksal sie erfahren haben; dass sie sich im Lauf der Zeit weitgehend zersetzt haben, konnte auch eine Rekonstruktion der Originalfassung nicht adäquat rückgängig machen. Wem fällt schon gleich auf, dass King Kong in dem gleichnamigen Film mal sechs Meter, mal 20 Meter misst? Wer Costa-Cavras „Z“ im Kino oder Fernsehen sieht, sieht dem Film nicht gleich an, dass er ein neues Genre begründet hat, den Polit-Thriller.

 

Hier liegt ja vielleicht auch die wichtigste Funktion von Lexika, nämlich dem, was es vorstellt, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, in diesem Fall also, Filme zu situieren, ihnen einen Stellenwert zuzuschreiben, der möglicherweise im Laufe der Zeit verblasst, von anderem überlagert, von neuen Strömungen verdeckt worden ist. Man erfährt von der Zeitbedingtheit bestimmter Genres (film noir), lernt ihre wichtigsten Elemente kennen, wird informiert über bestimmte Reaktionen des Kinos auf den Einzug des Fernsehens in die Wohnstuben des potenziellen Kinogängers (Breitwand) und wird ständig auf dem laufenden gehalten über die jeweilig aktuellsten medientechnischen Standards des Kinos.

 

Dass bei dieser Dichte des Programms manche Namen und Filme nicht genannt werden (wie zum Beispiel der ungarische Regisseur Béla Tarr oder Michel Deville) muss nicht traurig stimmen, das Vorwort nennt die eine oder andere Internetadresse, wo jeder das finden wird, wonach er sucht. Der Herausgeber hat hundert Autorinnen und Autoren um sich versammelt, die die Artikel bestreiten, daneben warten 103 Schwarzweißabbildungen darauf, betrachtet zu werden. Dieses Lexikon gehört in jede Bibliothek.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Metzler Film Lexikon, hg. von Michael Töteberg, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart Weimar 2005 (Metzler)

 

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