27. Oktober 2005

Nicht zuviel genießen

 

Vierzehn kurze Geschichten zwischen 1990 und 1999 geschrieben. Und eine, „Manuscrit trouvé à Saint-Germain-des-Prés“ von 1996, geht so: Paris in allernächster Zukunft. Einer der zentralen Bezirke, Saint-Germain, eine Festung. Mesopotamische Verhältnisse à la Sloterdijk. Hier aber doch eher die Wehrsituation. Totale Abschottung nach außen. Initiiert von den Reichen, Mächtigen, Erfolgreichen. Von den Inselmenschen aus Beigbeders „99 Francs“. Draußen fängt das Volk an zu murren und probt allenthalben den Aufstand. Es gibt eigentlich keinen Rückzug mehr, die Mauern sind größtenteils schon geschliffen, der Plebs zieht plündernd und mordend durch die heiligen Bezirke der nicht mehr so ganz happy few.

 

Einer der wenigen Übriggebliebenen sitzt im Café Flore und teilt einer ungewissen Leserschaft mit, was ihm gerade so durch den Kopf geht und was für ein Schicksal ihn auf kurz oder lang, eher aber auf kurz, erreichen wird. Ich habe die ganze Zeit, also etwa vier Seiten lang, darauf gewartet, dass auch Namen fallen, von Leuten, die es halt wirklich gibt, und natürlich vor allem an den literarischen König von Saint-Germain, also keinen anderen als Philippe Sollers. Der ja dekadent genug wäre, um zitiert zu werden als abschreckendes Beispiel, Sohn der Großbourgeoisie, Großmaul und Verächter der Massen, elitärer Snob, reaktionärer Katholik, unzugänglicher Literat (Lacan zu seinen Seminaristen: „Ich empfehle Ihnen, ein wenig Gegenwartsliteratur zu lesen, nicht unbedingt Philippe Sollers, er ist unlesbar, wie ich, übrigens“) und vor allem Hengst der Frauen, also Genussmensch durch und durch, ein willkommenes Objekt, an dem man seinen Lustneid abreagieren könnte, und in der Tat, ein paar Absätze vor dem Schluss der Erzählung und zugleich dem Ende des Manuskriptschreibenden, wird dem anderen Leser, also uns, die wir noch in sicheren Verhältnissen uns wähnen dürfen, Mitteilung gemacht von dem furchtbaren Schicksal, das den Günstling des weiblichen Geschlechts ereilte:

 

„Als sie Matthieu Kassovitz verbrannt haben, sind uns endlich die Augen auf gegangen, aber es war schon zu spät… Das Weitere ist bekannt: das Attentat bei Castel, der Brand bei Grasset, Philippe Sollers, den man qualvoll mit den Füßen an die Kirchenglocke von Saint-Germain-des-Prés hängte…“ Irgendwann stehen die Marodöre vor dem Flore, der die längste Zeit Privilegierter gewesene zieht sich aufs Klo zurück, nützen wird es ihm nichts: „Ich glaube nicht, dass es mir gelingen wird, ihr Freund zu werden.“ Eine weitere nette Geschichte nennt sich: „Die abscheulichste Geschichte dieser Sammlung“ aus dem Jahr 1995. Dabei geht es um ein Liebespaar, das sich aus lauter Überschuss der Lust das Spiel ausdenkt, sich gegenseitig Beweise der Liebe abzufordern. Der Titel der Geschichte ist dabei ganz wörtlich zu nehmen. Es wird wirklich nichts ausgelassen, es ist ein bisschen wie Valie Export, die mit Peter Weibel als Hund in Wien Gassi geht, oder Gunter Falks und Wolfgang Bauers „Free Schach“ in Graz, nur halt noch ekliger und weniger aus auf épater le bourgeois.

 

Die erste Geschichte besteht übrigens nur aus Fragen, sehr schön, zwei Erzählungen berichten von einem Mann, der die Frauen betrachtet, und sogar Lady Di, ohne dass ihr Name genannt wird, betritt den Erzählraum, aus dem heraus endlich klar wird, warum die von allen Menschen Geliebte sterben musste. Auf diesen knapp hundert Seiten dürfte jeder seine schönste oder abgeschmackteste Story finden.

 

Dieter Wenk (04.01)

 

Frédéric Beigbeder, Nouvelles sous ecstasy (Paris 1999)