24. Oktober 2005

Alles drin

 

Ach ja, Lichtmetaphern. Die fehlen schon mal nicht in dem Erzählungsband „Etwas fehlt immer“. Sie ziehen sich durch das ganze Buch hindurch. In einigen Geschichten eher moderat, woanders kann man von den durch die Fenster fliegenden Lichtkacheln schon mal erschlagen werden. Zweifellos ist das Phänomen Licht eingehender Beschäftigung wert, vor allem für Leute, die von Haus aus Lyriker sind. Guy Helmingers Bildsprache entbehrt auch nicht der Originalität oder der Anschaulichkeit, es ist manchmal nur einfach zu viel pro Seite.

 

Zum Glück versteht es der Autor aber, den Leser auch mit etwas anderem nicht in Ruhe zu lassen: mit dem Mangel an Durchsichtigkeit und Erklärbarkeit. Durch die vielen feinen – durch einfache Gegenstände, den Klang von Musik oder das Wiederkehren der lautmalerischen Namen der Charaktere hervorgerufene – Verknüpfungen zwischen den Geschichten glaubt sich der Leser zwar ständig auf einer Fährte. Er kommt aber über rein raum- und zeitliche Zusammenhänge nicht hinaus. Die Motivation für das unerwartete Verhalten der Akteure bleibt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unklar, meistens kann der Leser sie nur erahnen.

 

Das Spektrum der Verhaltensabsurditäten reicht von harmlosen Marotten – Schläge auf Hinterköpfe ahnungsloser Passanten – über Stalking – einer Schauspielerin wird jeden Abend von einer vierköpfigen Familie aufgelauert – bis zu brutaler Gewalt, wenn ein auf den ersten Blick harmloser Mensch zum Beispiel einen Hund tagelang an den Hinterbeinen aufgehängt.

 

Die Absonderlichkeiten betrachtet Helminger nicht isoliert, sie sind eingebettet ins ganz normale Kleinstadtleben. So kommt es, dass tatsächlich alles drin ist in dieser Geschichtensammlung: zerbrechende Liebschaften, Erotik, scheiternde Kommunikation, Egoismus, Einsamkeit, Tod etc. Auch ein Ausflug in die deutsche Nazi-Vergangenheit fehlt nicht.

 

Vereinzelt überrascht allerdings die Durchsichtigkeit, mit der Helminger Absurdität erzeugt. Dass ein Kommissar durch den Anblick einer Leiche, die er mit dem Kopf in einem Teller Pasta vorfindet, Appetit auf italienisches Essen bekommt, muss nicht sein. Manchen beschleicht sicherlich auch das Gefühl, dass der Autor an einigen Stellen selber nicht genau wusste, wie er seinen Plot zu Ende führen sollte – wenn er die fehlende Durchschaubarkeit etwas zu weit treibt und den Leser völlig orientierungslos zurücklässt.

 

Die Qualität, mit der Helminger es aber an anderen Stellen versteht, einen Raum zwischen Wahn und vermeintlicher Objektivität aufzuspannen, ist dafür mehr als entschädigend. Oder wenn der Leser eine schwache Ahnung des Ausmaßes der Abgründe bekommt, die einen Menschen unvermittelt zur schlimmstmöglichen Handlungen treibt. So sind denn „Reisefieber“ und die darauf folgende Erzählung „Besuch“ Höhepunkte der Geschichtensammlung. Manchmal lässt man dann auch gerne Lichtumarmungen über sich ergehen.

 

Markus Hamann

 

Guy Helminger: Etwas fehlt immer, Suhrkamp 2005

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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