22. Oktober 2005

Schockgezappelt

 

Vielleicht hat er mit Heidis Großmutter auf der Alm gespielt, dort, in den Schweizer Bergen, wohin er als zurückgebliebener, kaum sprechen könnender junger Mann geschickt wurde. Er war der Freund der Kinder, machte durch sie auch die Bewohner des kleinen Ortes auf schreiendes Unrecht aufmerksam, indem er sich für eine arme Sünderin einsetzte, die Vorform der späteren Nastassja, die vor der Schweizerin das Glück voraus hatte, hübsch und gesund zu sein. Nur macht sich Nastassja später das Leben selber schwer, indem sie sich selber schuldig spricht, ein Wort, das die arme Schweizer Dorfdeppin nicht gekannt hat. Und so trifft die Schöne, die zu früh Erfahrungen mit Sex machen musste, auf den unschuldigen Myschkin, der davon nichts weiß. Sofortige gegenseitige Anziehung, wobei an keiner Stelle genau gesagt wird, in was sie jeweils besteht. Rätsel, das die Betroffenen selbst auch nicht lösen können, weil sie nicht wissen, was sie wollen.

 

Und das weiß so gut wie keine der Figuren, nicht die Generalsgattin, die ihren Töchtern freien Lauf lässt, und doch mit nichts anderem beschäftigt ist, als sie an den Mann zu bringen, nicht Rogoshin, der N. blind liebt und sie doch an den Fürsten abtritt, um ihn dann erdolchen zu wollen, wovor den Fürsten alleine sein Anfall schützt, auch nicht wirklich die Töchter, allen voran Aglaia, die man nicht auf bestimmte Sympathien, die sie hat, ansprechen darf, um sie nicht zu gegenteiligem Handeln zu bringen, Myschkin, der Eingetretenes, wie die Flucht der Braut, auch einfach so akzeptieren kann. Und so kann man keine Figur auf den Kopf zu fragen, obwohl die Figuren untereinander das sehr häufig machen, was sie wollen, von sich, von den anderen, und mit dieser ständigen Ungewissheit trägt sich der Roman über Hunderte von Seiten, und so ist es nur logisch, dass die Bewegung dadurch zum Erliegen kommt, dass ihr das Zentrum genommen wird, das natürlich kein anderes ist, als die Frau, die fatale, N., die Rogoshin dann doch umbringt.

 

In dem Moment fällt alles zusammen, weil sie alles zusammengehalten hat. Der Fürst verbringt mit Rogoshin eine letzte Nacht gemeinsam, als Totenwache, am Bett der Geliebten, wobei der Leser sich fragen wird, wie diese Liebe tatsächlich ausgesehen hat, und am nächsten Tag ist der Fürst dann wieder reif für die Schweizer Berge. Vielleicht hat ihn also auch ganz früh ein Liebesweh zum Verstummen gebracht, denn dass er reden kann, hat er ja zur Genüge bewiesen, und er hat sich bis zur Katastrophe des endgültigen Verlusts dieser Frau immer durch Aufschub einer im Grunde nicht einlösbaren Leidenschaft vor sich selbst und seiner inneren Emigration retten können. Seine Rettung war immer nur sein Idealismus, seine so genannte Reinheit, die seine feinste, vielleicht vor ihm selbst verborgene Strategie ausmachte, das Chaos von sich abzuhalten und auf eine sich von sich selbst regelnde Ökonomie der privaten Beziehungen zu hoffen, die natürlich nie eintreten würde, Selbstmissverständnis liberalen Ordnungsdenkens im Kleinen wie im Großen.

 

Nett die Geschichte mit dem Bologneserhündchen. Kurios die Sache mit dem Zählen: Lebedew zählt sich selbst mit, als er überlegt, wer sein Geld gestohlen haben könnte; erinnert vor an Lacans Sache mit dem Kleinen, der gefragt wird, wie viele Brüder er habe und der sich auch mitzählt.

 

Dieter Wenk (03.01)

 

Dostojewski, Der Idiot, verschiedene Ausgaben