19. Oktober 2005

Lasst die Toten zu ihr kommen

 

Nach drei um die 250 Seiten starken Romanen also eine erste Sammlung von kurzen Geschichten, elf an der Zahl, geschrieben zwischen 1994 und 1999, einige bereits in Zeitschriften oder Sammlungen veröffentlicht. Der Leser erkannt alles wieder, in kondensierter Form, die Sprache, die Gestalten, die Themen (es gibt nur eins, den Körper und die Lust). Alle Erzählungen verharren gewissermaßen einen Augenblick vor dem Umschlag in die unausweichliche Katastrophe. In diesem verdichteten Moment steckt dann die geballte Negativität, das betrogene Begehren, die überstarke Ideologie, die völlig verkorkste Kindheit. Und die jeweiligen Endfiguren sind die Verteiler des ausbrechenden Unglücks, wobei sie entweder sich selbst oder andere treffen oder auch beide zugleich.

 

Ein Opfer nennt sich am Ende genau so, wie sie, eine Frau, glaubt, dass sie von anderen betrachtet wird, nämlich als eine schmutzige fette Sau. Diese Frau ist mit einem im Grunde völlig bedeutungslosen, aber immerhin doch einnehmenden Mann verheiratet, der sie zu achten scheint, auch wenn er die Blicke anderer Frauen zu goutieren weiß. Die Sau also findet sich eines Abends allein zu Hause, ihr Mann isst noch weiter – sie hat ihn vorzeitig im Restaurant verlassen, weil sie sich unwohl fühlte – und nun zieht sie sich aus, betrachtet sich, ekelt sich, findet Worte für sich, und sie entscheidet für sich, dass das so nicht geht mit dieser fetten Sau, und so holt sie sich aus der Küche ein Messer und sticht so ein bisschen an ihrem fetten Bauch herum, immer noch sich verbal besudelnd, das bildet dann mit dem bald fließenden Blut eine passende Einheit, und der Mann kommt immer noch nicht, da war ja diese Bedienung, das war mehr als geheimes Einverständnis, er wird nicht kommen, und sie sticht immer weiter, immer tiefer, und die Sau stirbt am Ende.

 

In einer anderen Geschichte streift ein junger Mann schon mehrere Tage lang an den Eingangstüren eines großen Kaufhauses entlang und versucht, einfach durch seine Präsenz und seine Arglosigkeit die unbewusste Vertraulichkeit des Polizisten mit dem elektronischen Alarmsucharm zu gewinnen. Irgendwann gelingt es ihm, an diesem vorbeizugehen, und jetzt könnte er sie überall deponieren, Zeit hat er, das Gelände zu sondieren und den Platz ausfindig zu machen, wo er mit den meisten Opfern rechnen könnte. Da passiert es ihm, dass er auf eine Bekannte aus früheren Zeiten stößt, das will ihm gar nicht schmecken, er hat nur mit Unbekannten gerechnet, mit Leuten also, die er nicht kennt, die ihm egal sind, aber von denen er dennoch glaubt, dass sie alle das haben, was ihm zu fehlen scheint, und was irgendwie allen diesen Despentes’schen Figuren fehlt, nämlich Zuneigung und Liebe, und in dem Moment, wo er sich mit dieser Bekannten unterhält, kommt er ins Schwanken, vielleicht könnte er sich ja mit ihr verabreden, vielleicht würde es ja mit ihr klappen und so weiter, aber die Kugel liegt ihm schon zu schwer im Magen, er glaubt da schon selber nicht mehr dran und tut das, was er tun muss.

 

Und so bekommt jede Geschichte ihren Toten (mindestens), vom unschuldigen kleinen Abtreibungsbaby über die Geliebte, die man nicht abtreten will, bis eigentlich hin zur ganzen Welt, die, weil man sie nicht töten kann, ersetzen muss durch im Notfall seine eigene Wenigkeit.

 

Dieter Wenk (03.01)

 

Virginie Despentes, Mordre au travers, Paris 1999