17. Oktober 2005

Unsentimental

 

Kein Aufarbeitungsfuror, dafür kleine Tragödien und Historie: Arno Geigers Familienroman "Es geht uns gut"

 

Der Sand ist fein, die Sonne scheint, es geht uns gut. Unzählige Urlaubs-Postkarten verschleiern mit derartigen Sätzen den wahren Tatbestand vor einem ruhig zu stellenden Adressaten. Wenn ein Buch, das von einer Zeitreise in die vergangenen 70 Jahre Österreichs handelt, den Titel trägt „Es geht uns gut“, liegt der Verdacht nahe, es müsse sich um einen ähnlich ruhig stellenden Euphemismus handeln, wenn nicht um Ironie. Die Menschen, die aus Arno Geigers neuem Roman „Es geht uns gut“ herausgrüßen, haben die wirren Zeiten im Zweiten Weltkrieg und danach alles in allem aber tatsächlich recht gut gemeistert. Keine Leichen sind aus dem Keller zu holen, keine Nazigrößen zu entlarven. Der Ich-Erzähler, der von seinen Eltern und Großeltern erzählt, hat keine außergewöhnliche Familiengeschichte vorzuweisen. Das Hauptgewicht des Romans liegt in den kleinen Tragödien, in denen sich allerdings die große Geschichte des Landes deutlich widerspiegelt.

 

Philipp Erlach ist Erbe eines großen Hauses im Villenviertel Wiens. Er hat, wie schon sein verstorbener Großvater keine Begabung für Unordnung und überlässt die Drecksarbeit gern anderen. Während zwei Ukrainer für ihn das Haus ausmisten, sitzt Philipp den Tag über auf den Treppenstufen der Eingangstür und sinniert über seine verstorbenen Verwandten. Er hat keinen Grund dazu. Denn er ist weder sentimental, noch gibt es für ihn irgendetwas aufzuarbeiten, keine Familientraumata, -tabus oder -geheimnisse. Es geht ihm gut. Einschränkend muss man sagen, es ginge Philipp noch besser, wenn er sich nicht mit dem von Tauben verschissenen Dachboden im Haus der Großeltern beschäftigen müsste. Meterdick schichtet sich dort wie symbolisch der Dreck der Jahre aufeinander. Nun müssen die Schichten mit Gasmasken und schwerem Gerät abgetragen werden. Das ist mühsam. Doch es gibt familiär tradierte Strategien, emotionale Überforderung und körperliche Arbeit, die bei so einem Erbantritt unweigerlich zu bewältigen sind, zu delegieren. Und darin ist der lethargische Philipp ein Meister.

 

Philipp, Mitte 30, hat sich nie sonderlich mit der eigenen Familiengeschichte befasst. Nun ist es zu spät, jemanden aus der Verwandtschaft dazu zu befragen, denn alle sind tot. Seine Freundin Johanna, die neben ihrem Verhältnis zu Philipp eine der großartigsten zerrütteten Ehen Wiens führt, wirft ihm sein Desinteresse vor und Philipp beginnt, während er lustlos den modrigen Hausrat in die bestellten Müllcontainer wirft, seine unmittelbare Vorgeschichte zu erfinden. Er notiert sie in Notizbücher und träumt von Arbeitsplätzen in jedem Zimmer des Hauses, die der Rekonstruktion je einer Person seiner Familie gewidmet sein sollen. Johanna ertappt ihn beim Märchenschreiben und schimpft, weil sie ihn nicht versteht. Sie ist Wetteransagerin im Fernsehen. Als Meteorologen arbeitet sie mit profunden statistischen Daten und kann Vorhersagen für die Zukunft treffen. Philipp dagegen fantasiert aus Bruchstücken perfekte Familiendramen zusammen, kann daraus aber keinerlei Vorhersagen zu seinem weiteren Leben machen. Das ist für ihn auch nicht weiter dramatisch. Er ist Schriftsteller und verwendet ungeniert alles Material, das er finden kann. Von ihm selbst erfährt man dagegen über die ganze Länge des Romans kaum etwas Konkretes.

 

Alle Kapitel des Romans sind mit Jahresdaten überschrieben. Die auf 1938, 1945, 1970 und 1989 datierten sind interessanter als die Kapitel, die Philipps Lustlosigkeit im Jahr 2001 angesichts der Aufräumarbeiten zum Thema haben. Es ist von Arno Geiger schlau gewählt, einen Erzähler zu etablieren, der selbst ziemlich langweilig daherkommt, sodass seine Geschichten umso eindrucksvoller wirken. Zum Beispiel die vom verwirrten Volksstürmer, der nicht akzeptierte Gatte für die Tochter aus gutbürgerlichem Hause. Die peinlichen Besuche des jungen Paares bei den Eltern mit dem damals noch sehr kleinen Philipp. Der Unglücksfall mit dem verhakten Armband am Donaugrund, bei dem die Mutter zu Tode kommt. Oder eine Generation vorher: die ulkige Art, wie sich Philipps Großvater, der gerade erst Vater wurde, von der Liaison mit dem Kindermädchen befreit. Denn er muss zugeben, alles zusammen, Kinder, Frau und Zugehfrau in einem Haus und die ganzen Ratssitzungen sind schwer zu vereinbaren. Er zieht sich vorerst aus der Österreichischen Politik zurück, der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland lässt ihm ohnehin keine andere Wahl. Nun ist er mehr zu Hause, stockt seiner Frau zur Besänftigung das Geld für die Garderobe auf, und das dralle Kindermädchen kann wieder ins Waldviertel zurück, um dort andere mit ihren quellenden Brüsten zu verwirren. Später als Minister ist der Großvater eine Schlüsselfigur beim Staatsvertrag des Jahres 1955. Doch auf dem legendären Foto ist er als einziger Politiker nicht zu sehen, da er wegen Zahnschmerzen zu Hause bleiben musste. Damit dergleichen nicht noch einmal geschieht, lässt er sich alle Zähne ziehen.

 

Es sind keine aufregenden Geschichten, die Arno Geiger erzählt. Aber wunderbar in sich abgeschlossene Tragödchen, dramatisch, komisch und mitreißend. Familiengeschichten sind ein dankbares Genre. Alle Leser haben Eltern und Großeltern, mindestens genetisch. Und die Verzweiflung über diese biologische Idiotie füllt so manch großartiges Buch und so manches Sprechzimmer mit Leuten, denen mit Büchern nicht geholfen ist. Autoren müssen gewisse Konstellationen nicht lang und breit erklären. Das Wort Schwiegervater spricht Bände, und so arbeitet auch Arno Geiger. Der Leser muss sich anstrengen mitzukommen bei den dutzenden von Reizworten, die sich im Familien-Kontext Philipp Erlachs aussprechen lassen. Es ist faszinierend, wie wenig Material eine Familiensaga bedarf, um als vollkommen überzeugende Chronik lesbar zu sein.

 

Das ist ein Trost für alle, die sich nie mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen wollten, wie Philipp. Es ist nicht nur wie in dem viel zitierten Zitat Tolstois, dass alle glücklichen Familien einander ähneln, auch Familiengeschichten ähneln einander. Man muss nur in der Lage sein, leicht zu schreiben mit verwundert ironischer Distanz zum Gegenstand, und wenn einem nichts einfällt, einfach etwas dazuerfinden, sowie es Arno Geiger in seinem neuen Roman glänzend vorgemacht hat.

 

Arno Geiger: "Es geht uns gut". Hanser, München 2005, 389 Seiten, 21,50 €

Deutscher Buchpreis 2005 für "Es geht uns gut"

 

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