15. Oktober 2005

Über die Unzumutbarkeit unordentlicher Cliffhanger

 

Vor der Moderne konnte mit einem Cliffhanger als Ende eines literarischen Elaborats nur durchgehen, was als Fragment bekannt war. Das Werk brauchte einen Schluss, der sich lesen und mit dem sich leben ließ. Als der anagrammatisch geschüttelte H. Clauren (alias Carl Heun) 1815 seine Erzählung „Mimili“ in dem Magazin mit dem schönen Titel „Der Freimüthige oder Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser“ erscheinen ließ, war der Leser dann doch befangen, weil das Ende fehlte. H. Clauren ließ seine Bergidylle just in dem Moment enden, als es am spannendsten wurde, sprich: wo der Leser sich mehrere plausible Lösungen ausmalen konnte.

 

Ein mit dem eisernen Kreuz ausgezeichneter preußischer Offizier reist nach den napoleonischen Kriegen zum Ausspannen in die Schweizer Berge (als Kontrastprogramm zum lärmenden Paris), im Schatten der schützenden und drohenden „Jungfrau“, und lernt dort durch Zufall ein sechzehnjähriges Mädchen kennen, Mimili, das in der Geschichte seine eigene, sogar schon vorlaufende Ontogenese repliziert, indem sie einmal als Dreijährige, dann als süßes Maderl, dann als ernüchternder Blaustrumpf sein (Un)Wesen treibt. Das Mädchen hat auch einen Vater, der mit dem Gast eine Art Ehekontrakt aufsetzt, als klar ist, dass der Offizier (Wilhelm mit Namen) und die Jungfrau miteinander glücklich werden wollen. Alleine Mimili hat außer dem Preußen noch keinen anderen Mann gesehen, und so erbittet sich der Vater ein Jahr Probezeit aus, in der Mimili möglicherweise entscheidende Differenzerfahrungen machen kann.

 

Und genau hier hört die Geschichte im „Freimüthigen“ auf. Ein Skandal. Die Leser bestürmen den Autor, er möge doch sagen, wie „es“ weitergeht. Das ist die eigentliche Geburtsstunde des H. Clauren. Er weiß jetzt, wie der Hase läuft. Er läuft zunächst in den beiderseitigen Tod, der aber doch nur ein Scheintod ist, aber die Spannung erhöht. Zunächst heißt es nämlich, dass Wilhelm (Mimili steht schweizerisch für Wilhelmine!) auf dem Schlachtfeld sein Leben lässt und Mimilis Herz in fernwirksamer Verbundenheit darüber bricht. Der Autor kann den Cliffhanger mittlerweile virtuos einsetzen und deckt in einem weiteren Akt den beiderseitigen Irrtum auf. „Zwischen zwei Toden“ liest es sich einfach besser. Das Probejahr ist jetzt auch vorbei und die beiden, auferstanden von den Toten, können heiraten.

 

H. Clauren setzt aber noch eins drauf. Wilhelmine und Wilhelm leben nun nicht nur weiter als Figuren in der Erzählung „Mimili“, sondern treten als reale Menschen auf, die dem Erzähler, H. Clauren, Briefe zuschicken, worin sie ihm u.a. mitteilen, wie schön es sei, dass ihr Schicksal so viele Menschen bewege (in der dritten Auflage 1819 erreichte die erweiterte „Mimili“ die für die damalige Zeit erstaunliche Zahl von 9000). Erst jetzt ist die Wahrheit der Geschichte erreicht. Sie ist nämlich potenziell unabschließbar – so viel haben die Leser bemerkt; es liest sich viel besser in permanenten Austauschprozessen mit (simulierten) Reality-Figuren. Der erste Container, so viel ist klar, stand in den Schweizer Alpen. Aber auch damit noch nicht genug.

 

Ein Jahrzehnt später schrieb der Clauren-Verächter (und vielleicht auch ein bisschen -Neider) Wilhelm Hauff die Erzählung „Der Mann im Monde“ unter dem Pseudonym H. Clauren, veröffentlicht bei Franckh. Der wahre Clauren (Carl Heun) strengte einen Prozess an, bei dem lediglich der Verleger, nicht aber der falsche Autor bestraft wurde. Der Clou: Das Publikum hatte es nicht bemerkt, dass ein anderer in die Clauren-Haut geschlüpft war. Aber vielleicht war das ja Absicht und Wilhelm Hauffs Bemerkung, er habe Clauren parodieren wollen, nur eine Schutzbehauptung, um nach dem Auffliegen des untergeschobenen Namens sich in die gute, kritische, aufklären wollende Absicht zu retten. Dem echten Clauren hat es auf jeden Fall geschadet, aber zu diesem Zeitpunkt hatte dieser die unabschließbare Serie als literarische Form schon längst etabliert.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

H. Clauren, Mimili – Wilhelm Hauff, Kontrovers Predigt über H. Clauren, hg. von Joachim Schöberl, Stuttgart 1984 (Reclam)