14. Oktober 2005

Träume der Sprache

 

Wir wüssten gerne mehr von diesen seltsamen Menschen (sind es Menschen?), aber dann würden wir eine andere Erzählung lesen (ist es eine Erzählung?). Manchmal hat man das Gefühl, im Kopf eines anderen zu träumen und über rudimentärste Einstellungen nicht hinaus zu kommen. Es wird so viel gesagt, aber wir verstehen so wenig. Es herrscht so viel Tristesse, man ahnt den immensen Vorschub, aber die Ausläufer verlieren sich schnell im Unsichtbaren und Ungreifbaren. Zuschreibungen verlieren ihren gewohnten Wert, Schwäche, auch körperliche Schwäche, erfährt das Gegenüber als unerträglichen Ballast, derjenige, der immer ja sagt, ist alles andere als ein im Auftrag der anderen operierendes Organ.

 

Drei Personen (drei Masken, drei Nichtse) – um sie herum nicht nennenswerte Staffage. Zwei Männer, eine Frau. Die Frau ist jung und schön, die Männer älter, einen erotischen Komplott mag der Leser von sich aus stricken, Liebe ist in dieser Textur eine Form der Vergangenheit oder umgekehrt eine jenseitige Plattform, vor deren Unerreichbarkeit der Rückgriff auf die Platitude einem unausgesprochenen Gebot gleichkommt. Die drei Figuren sind sich in ihrer Abseitigkeit relativ ähnlich, sie sind – namenlos – angesprochen, aber nicht angeschrieben, die Umschreibung ist hier etwas fundamental Positives, die strikte Zugriffslosigkeit durch das Wort lässt Literatur entstehen, reine Literatur, die nichts anderes dokumentiert als den unheimlichen Zauber der vor- oder nachsemantischen Verknüpfbarkeit.

 

Diese literarische Option ist seit Mallarmé angelegt und hat vor allem im Französischen bisweilen zu einer schwer erträglichen Fetischisierung des „reinen“ Worts geführt, das so rein ja dann auch wieder nicht sein sollte: Raunen, romantisierender Raum, roaring sounds als Geleit und Versprechen in Zonen des (noch) Unausdenklichen. Wer wie Mallarmé den Referenten ein für allemal hinter sich lässt, weil das Nennen des Worts auf die Abwesenheit des ihn bezeichnenden Gegenstands hinausläuft, der deshalb hinfällig, ungreifbar wird, muss sich mehr als andere die Frage nach der Form stellen, denn wie öffnet und schließt sich der a-referentielle Raum? Reichen tradierte lyrische Formen wie Sonette aus? Muss man nicht aus dem harmonischen Reimzwang hinaustreten wie der Dodekaphoniker aus der Tonalität?

 

Nichts anderes scheint Maurice Blanchot zu machen. Die Wörter, die man liest, lassen sich alle nachschlagen, aber man findet sich trotzdem nicht wieder. Der letzte Mensch wohnt in einem Turm, aus dem er immer wieder hinabsteigt und Fragen erwirkt, die zu einem Gerüst führen, das sich an den Turm anschmiegt, damit von dort eventuell ein Blick in das Zimmer des Letztgereihten möglich wird. Das Seltsame an dieser Erzählung ist, dass diese Spannung, je weiter man liest, immer weiter zurückgefahren wird, als ob man irgendwann realisieren würde, dass der authentische Blick ins Zimmer niemals gelingen kann und das, was dann noch übrig bleibt, der Rest als zum angeblichen Ort des Geheimnisses führender Spur, alles ist, was sich überhaupt sagen lässt.

 

Maurice Blanchot schreibt eine Literatur des Ausgangs im doppelten Sinn des Worts: Ein Endpunkt ist erreicht, aber genau davon nimmt das Schreiben seinen Ausgang. Endlosschleifen, die mal mehr, mal weniger Distanz zu sich selbst nehmen. Der ganze zweite Teil dieser Erzählung ist zum Beispiel eine Verrückung ins ganz Nahe, eine Verdichtung, die beinah ganz auf die personale Triangulation verzichtet. Und es ist ein Wunder, dass dieses Schreiben (und hier: die virtuose Übersetzung Jürg Laederachs) überhaupt klappt. Dieses Schreiben hat Schule gemacht, aber man muss schon zu den Meistern greifen, um es gerade noch zu ertragen.

 

Die Erzählung „Der letzte Mensch“ erscheint hier zum ersten Mal auf Deutsch – nach der „nouvelle version“ 1977.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Maurice Blanchot, Der letzte Mensch. Erzählung, übersetzt von Jürg Laederach (nach der „nouvelle version“ 1977), Basel/Weil a.R. 2005 (Urs Engeler Editor); Paris 1957/1977, Editions Gallimard