13. Oktober 2005

Der Berg und seine Opfer

 

Geometrisch wie bei Gert F. Jonke geht es bei Wolfi Bauer eigentlich nie zu und ein Heimatroman ist „Häuptling der Alpen“ auch nicht, aber der Häuptling ist immerhin die Drehbuchvorlage zu einem Heimatfilm, allerdings in seiner umgekehrten Form. „Häuptling der Alpen“ ist nicht Anti-Kitsch, sondern negativer Kitsch, genauso platt und eindimensional wie sein Gegenbild. Ein ins Alpenmilieu versetzter Clint Eastwood als Comic-Version. Oder auch Madame Bovary in der Postmoderne.

 

Der Bauernsohn Sepp konnte nicht richtig sozialisiert werden. Statt wie sein älterer Bruder Hias dem Vater ein guter Sohn zu sein und brav zu malochen, reitet er lieber in die schöne, unverstellte Alpennatur, um dort zu lesen und sich in ein österreichisches Indianerleben hinein zu fantasieren. Das findet die Resi zwar ganz toll, weil der Sepp immer so schöne Sachen zu erzählen hat, aber leider ist sie dem Hias versprochen, das ist die harte unverrückbare Alpenhierarchie. Außerdem wird Sepp enterbt. Wer nichts arbeitet, bekommt auch nichts. Gut, dass es den schwulen Baron gibt mit seinen Büchern und Heftchen. Der ist zwar mit Schuld, dass Sepp die Ziegen mit Rassepferden und depperte, am Katzentisch sitzende Gehilfen mit Hilfssheriffs verwechselt, aber er hat auch ein Erbarmen mit seinem Schützling und schickt ihn nach Rom, wo er als Stuntman in einem Indianerfilm mitspielen kann. Sepp wird in der Dorfkneipe noch mal richtig durchgeprügelt, nachdem er noch mal mit Resi Geschlechtsverkehr hatte, dann zeigt ihn die supponierte Kamera aber auch schon in Roms Filmstadt Cinecitta, wo er schnell Zugang erhält zum jüdischen Schauspielagent Leon Frankfurter, der zehn Sprachen gleichzeitig spricht und natürlich wahnsinnig zynisch ist.

 

Nur der Regisseur ist noch zynischer. Dieser schickt die aus dem Alpenraum angereisten Idioten reihenweise über Häuserdächer, von denen er sie mit harter Munition runterschießen lässt, die Ambulanz steht natürlich auch schon bereit. Auch Sepp fällt. Im Spital fantasiert er heftig, ein Häuptling gibt ihm einen klaren Auftrag, ein Fall von posthypnotischer Suggestion wie bei Brian de Palma in „Sisters“, nur dass das der Sepp von ganz alleine macht. Er soll die Bleichgesichter auf grausame Art vernichten. Das muss sich Sepp nicht zweimal sagen lassen. Das Gutenberg-Gymnasium von Erfurt hat würdige Vorläufer. Nicht nur Videos, auch Bücher vermögen die Einbildungskraft labiler Menschen entscheidend zu verbiegen. Während Sepps Filmbild schon von der Leinwand strahlt und die Dorfbewohner in große Heiterkeit versetzt, ist der wirkliche Sepp wieder in Stand gesetzt und nähert sich in Indianer-Montur seinem Ort der Bestimmung. Wilde, gefährliche Rufe entwinden sich seiner Kehle.

 

Dann geht es los. Als erstes geht der Briefträger seinem fürchterlichen Schicksal entgegen, man findet ihn skalpiert; der Schilehrer wird ans Gipfelkreuz geschlagen, der Gendarm zusammengeschossen. Der treffliche Pfeil des Racheengels trifft natürlich den werten Hintern des Barons, der das aber ziemlich geil findet. Auch die Amerikanerin wird hart genommen, muss aber auch sterben, aber Amerikaner sind affirmativ bis in den Tod. Leider ist gerade auch „Perchtenlauf“ im Ort. Der Jäger wird zum Gejagten, die Masken setzen an zum rituellen Mord. Gelyncht, wird Sepps Leichnam auf die Straße geworfen. Zum Ende gibt’s noch mal die Berge in einer schönen Totale zu sehen.

Ein sehr schöner Bauer aus dem Jahr 1974, ein Jahr vor der formalen Wende.

 

Dieter Wenk (10.05)

 

Wolfgang Bauer, Häuptling der Alpen (Filmdrehbuch, 1974), in: manuskripte, Heft 58 (1977), S. 3-17