12. Oktober 2005

MacGuffin à la française

 

Ein Mord in der Provinz fällt mehr auf, aber Neurosen und Perversionen pflegen überall zu gedeihen. Außerdem muss sich die Provinz in gar nichts rechtfertigen, denn sie ist ein Genre und damit etabliert. Die Verteilungen sind anders, es gibt die ganze Sozialpalette, aber die Anerkennungen sind verschieden von denen der Stadt. Der Künstler ist nicht der Star, sondern eher das verletzliche Wesen, das es in der Stadt nicht geschafft hat oder mit sonstigen Blessuren behaftet ist. Die Provinz ist aber nicht nur ein permanenter Rückzugsraum gescheiterter oder fragiler Existenzen, sondern auch Ort der Erholung oder der intensiven, ungestörten Arbeit derjenigen, die die Stadt zur Stadt machen.

 

Zum Beispiel der Journalist Desmot, der nebenbei auch noch Romane schreibt. Er hat Kolumnen in politisch äußerst entgegengesetzten Blättern, empfängt bekannte Kulturträger in einer Fernsehshow („wen haben Sie demnächst als Gast?“ – „ Oh, es kommen Sollers und …und …“), zitiert gerne zynische Weisheiten von Drieu la Rochelle, die er gerne als eigene Aphorismen ausgibt und spielt überhaupt gerne mit Menschen. Das lässt sich natürlich auf dem Bildschirm immer schön zeigen, und deshalb bleibt der dumpfe perverse Triebtäter, über den es eben nicht viel zu sagen gäbe, konsequent im Hintergrund. Wer auf kleine Mädchen steht und schließlich eins umbringt, muss nicht unbedingt mit einer Sozialbiografie versehen werden, denn daraus lässt sich bekanntlich nichts lernen, wenn es überhaupt noch betroffen macht. Der Tod des kleinen Mädchens ist also der Anlass, der sich Türen der Provinzhäuser etwas weiter öffnen lässt, und sei es, weil eine Kommissarin den Fuß in die Tür stellt.

 

Diese Welt ist klein, Bezichtigungen machen die Runde, Selbstbezichtigungen werden diskret weitergegeben. Irgendwann hat die Kommissarin so viel Material gesammelt, dass sie sagen kann, dass sie nicht weiterkommt. Der Vergewaltiger hat keine Spuren hinterlassen – weil er zu klug war, oder weil er nicht konnte? Auf dieser Folie hat dann ein zweites Drama angefangen, mit mehr Text, mehr Emotion, mehr klassischer amouröser Konstellation, und diese Beziehung zwischen dem Journalisten, dem Künstler, der sich nicht traut oder gerade wieder anfängt, auf bewährte Muster und verkäufliche Kanevas zurückzugreifen, und seiner Frau, einer Ärztin, dreht sich ganz aus den Anfangsverdächtigungen heraus und stellt mit den zu erwartenden Irritationen, Verdächtigungen, Eifersüchteleien ihr eigenes Maß an kriminalistischer Würde her.

 

Der Höhepunkt dieser Triangulation, bei der es keiner der Beteiligten geschafft hat, den Strick bis zum gewünschten Anschlag zuzuziehen, ist ein Abendessen bei dem Ehepaar, bei dem die verhinderten und vereitelten Aktionen verbal übersetzt und damit verzerrt werden, was nichts anderes heißt, dass die körperlich-seelischen Eroberungen, die nicht stattgefunden haben, als Invektiven inszeniert werden, wobei der eine, der Künstler, hilft, die Schranken der Höflichkeit durch exzessive Alkoholabfuhr schneller zu überwinden, und der andere, der Journalist, diese Stütze gerne aufnimmt, um seine Recherche in Sachen Roman mit einer Begleichung von Rechnungen und einer finalen Positionierung von Stadt und Land zu verbinden.

 

Die Frau ist, wie immer bei Chabrol, das Objekt. Am Ende steht ein Plan, dessen Ausführung aber vermutlich genauso kontingent ist wie die Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens. Und der Entzug des Mädchens steht auf einer Stufe mit einem Zuviel an Text, der, weil er eine unerträgliche Waffe ist, nur mit einer anderen Waffe zum Schweigen gebracht werden kann. Zwei Ausnahmesituationen, die beide nicht gezeigt wurden, weil sie sich nicht darstellen lassen. Die eine auch aus Dezenz, die andere, um Spannung beizubehalten. Aber beide Situationen sind solche, die plötzlich nicht mehr abgebrochen werden können, und es wäre müßig, den point of no return finden zu wollen. Chabrol ist ein Regisseur, der den Ausbruch sucht, den faszinierenden Eklat, der überall einen Dauerschlummer schläft und mit relativ einfachen, aber immer wieder spektakulären Mitteln zum Ausbruch gebracht werden kann. Und das Genre will es, dass diese Nähe zwischen Schein und Sein, zwischen Bedächtigkeit und Gefährlichkeit nirgends irritierender verknüpft ist als auf dem Lande, das in Sachen unterschwelliger Brutalität immer noch unüberbietbar ist.

 

Dieter Wenk (07.03)

 

Claude Chabrol, Die Farbe der Lüge (Au coeur du mensonge), F 1998, Sandrine Bonnaire, Jacques Gamblin, Valeria Bruni Tedeschi