2. Oktober 2005

Aufrücken

 

Die Rede ist zwar schon längere Zeit nicht mehr vom Ostblock, aber wer könnte heutzutage zwei oder drei Dinge nennen, die zum Beispiel Bulgarien von Rumänien trennen? Vielleicht fällt einem gleich ein, dass Sofia die Hauptstadt von Bulgarien und nicht von Rumänien ist, aber was macht man etwa mit dem Namen „Plovdiv“? Um dieser Malaise ein wenig entgegenzutreten, gibt es seit zehn Jahren eine „Deutsche Reise nach Plovdiv“, Bulgarien, ein Ort, knapp zwei Autostunden von Sofia entfernt. Im August eines jeden Jahres mieten sich Dichter und Schriftsteller, gefördert von der „Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur“, in einem Logis in Plovdiv ein und gehen auf Jagd, sammeln Informationen, lassen sich vom Schwellencharakter des Ortes zwischen Althergebrachtem und Modernem anregen; das Produkt gibt es in einer schönen Edition ein Jahr später zu lesen.

 

Im Jahr 2004 hielt sich die 1962 geborene Schriftstellerin Ute-Christine Krupp in besagter Stadt auf und gab ihren Betrachtungen den Untertitel „Ein Dialog“. Dieser Dialog ist aber nur scheinbar singulär, und man wüsste nicht zu sagen, welcher der gleich zu nennenden Teilnehmer an erster Stelle zu nennen wäre. Anders als Johann Lippet durchstreift Krupp „Kapana“ (so der Name der Altstadt Plovdivs) und Umgebung nicht mit Hund und Katze, sondern mit einem allerdings nicht näher genannten Begleiter. Die Autorin tritt aber auch in einen Dialog mit schon existierenden Zeugnissen geografischer, literarischer, mythologischer Art, die teils mit einfließen in den Dialog als Spaziergang, teils aber auch erst später als Informationsträger in den Text eingebaut werden. Verschiedene Plateaus bieten sich so dem Leser an, und die Autorin entzieht sich diskret einer auktorialen Zuschreibungspflicht. Denn das Erstaunliche ist ja: Plovdiv ist immer schon da, man muss nur hinsehen und dem Gesehenen und Erplauderten einen Namen oder Link geben, und schon fällt auf, dass die „Membercard“ tatsächlich fällig ist (Bulgarien wird demnächst in die EU aufgenommen). Der dortigen Jugend ist klar, um was es geht: westeuropäische Fremdsprachen lernen, Computerkenntnisse sich aneignen. Deutschland ist dabei ein beliebtes Referenzland.

 

Umgekehrt vermag Krupp in ihrem Mini-Atlas zu zeigen, dass Plovdiv, „eine der ältesten Städte Europas“, zwar immer noch ein touristischer Geheimtipp ist, aber vielleicht bald einen ernstzunehmenden Kandidaten für Aufbruchsstimmung abgeben kann. Dann wird man merken, dass es in Europa ein weiteres Alphabet zu lernen gibt (kyrillisch), in der Plovdiver Altstadt Cafés mit dem Namen „Orpheus“ aber vielleicht doch in römischen Buchstaben angeschrieben sind. Auf jeden Fall wird es zu Dialogen kommen, und man darf gespannt sein auf die Moderation. Ute-Christine Krupp hält sich auf ihren Streifzügen mit Begleitung diskret zurück, den Leser erwartet keine Befindlichkeits- oder Betroffenheitsprosa, sondern ein angenehme Mischung aus historischen und geografischen Daten, Plaudereien, Fragen ohne Antworten, Betrachtungen zu mehr oder weniger wichtigen Unterschieden zwischen Ost und West, und am Ende steht „Plovdiv“ als gelungene Ein-Stunden-Komprimierung.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Ute-Christine Krupp, Membercard Europa. Ein Dialog, „Deutsche Reise nach Plovdiv“, hg. von Hans Thill, Heidelberg 2005 (Wunderhorn)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon