20. September 2005

Unwissentliche Antizipation

 

Stünde nicht dieser Autorenname auf dem Buchdeckel, würde der Roman wohl kaum unter den knapp 600 Neuerscheinungen in diesem Herbst in Frankreich aufgefallen sein. Aber er steht halt nun mal drauf. Und alle sind irgendwie enttäuscht. Die Messlatte wurde nicht erreicht, einer der Hochleistungsromanciers unserer Tage hat kläglich versagt. Wirklich? Auf der zu den Medien hin getrimmten Seite bietet der Text nicht so sehr viel Aufsehenerregendes. Da ist das Thema Sextourismus, das es in Frankreich, dem Erzähler Michel nach, etwas schwerer als hierzulande hat, als ein wenn auch ein wenig unschöner Aspekt der westlichen Welt so doch als systemgebundene Notstandsrealität akzeptiert zu werden.

 

Das ideale Tauschverhältnis: Der Westen hat die Körpermisere, aber Geld, der Osten (zum Beispiel) materielle Not, dafür aber (noch) intakte, begehrenswerte Körper. Es muss ja nicht alles Liebe sein. Vielleicht ein wenig provozierender wirkt die Begründung, warum es überhaupt zu diesem Typus von Reisen gekommen ist. Hieß es bei Lacan in den 70er Jahren noch, dass die so genannte Abwesenheit der Geschlechterbeziehung zum Teil darin begründet sei, dass die Frau „nicht ganz“ in der Genitalität des Mannes aufgehe, so liest man in diesem Roman, dass die westliche Frau überhaupt nicht länger in der Lage sei, sich korrekt mit dem Schwanz des Mannes zu beschäftigen. Also flieht der westliche Mann, weil auch die Prostitution, wo sie erlaubt ist, nicht mehr auf einem akzeptablen Stand sei. Und wohin flieht er? Am besten nach Thailand, da gibt es die Frauen, die dem abendländischen Mann das geben können, was er vermisst, so sagt es jedenfalls ein gewisser Robert, der den zynischen Part in der Diskussionsrunde über Prostitution im Dritte-Welt-Ausland übernimmt. Und wem das als Filter der Provokationsentschärfung noch nicht reicht, gibt es natürlich die märchenhafte Ausnahmeerscheinung, Valérie, in die sich der Erzähler verliebt, und die es schafft, sogar sexuell die ganze Thai-Bagage abzuhängen.

 

So schlecht kann es also mit den Westfrauen gar nicht bestellt sein. Wo eine ist, sind auch mehr. Oder ist Valérie nicht doch schon ein bisschen ins Asiatische entrückt? Nicht mehr so ganz buschheurig? Sogar ganz entschieden überhaupt nicht Else-mäßig. Solche Leute sind ja wirklich eine Katastrophe. Und ist das nicht wirklich ein Grund, etwas panisch zu werden, so als Mann? Das wirklich Provozierende an diesem Roman ist wohl auch nicht die Diffamierung des Islam als bescheuertste Religion überhaupt, sondern die Romantatsache, dass Houellebecq hier eine richtige Liebesgeschichte bietet, dass es also doch geht, mit der Liebe (einschließlich Geschlechterbeziehung). So einen kleinen Ansatz hat es ja auch schon in den „Elementarteilchen“ gegeben (überhaupt nicht dagegen in seinem Romanerstling), hier wird es also ausgebreitet, das Glück, über dessen Nennung in Zusammenhang mit diesem Autor eigentlich immer ein klares Ausschließungsverhältnis geherrscht hat, aber dennoch: Wer so deprimiert werden kann oder ist, der hat einmal ganz hoch von etwas gedacht. Der manisch-depressive Typ als Leser bekommt hier sein Fett weg. Auch Oblomow müssen wir uns als einen früher fröhlichen, glücklichen Menschen vorstellen.

 

Insgesamt ist das Buch sehr routiniert erzählt, man bleibt dran, manchmal hat mich das reiseliteraturmäßige gestört – da schau ich mir doch lieber einen Film an – oder die etwas trockenen Tourismusbranchenabschnitte. Das Ende ist quasi reiner Houellebecq, die Katastrophe und die anschließende radikale Reduktion, gegen die westliche Welt, auf sich selbst, auf seine Wenigkeit, Bedeutungslosigkeit, sein buddhistisches Nichts, das aber immerhin das noch aus sich entlässt, was der Leser schließlich in den Händen hält.

 

Dieter Wenk (09.01)

 

Michel Houellebecq, Plattform, übersetzt von Uli Wittmann, Köln 2002 (DuMont Literatur und Kunst Verlag) ; Plateforme (Paris 2001)