15. September 2005

Post-its aus dem Postproletariat

 

"Kleine Klasse, keine Kasse." Karl Kuschel ist Lumpenakademiker. Trotz akademischem Abschluss muss er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. "Good bye, Arbeitsschutz", heißt es da oft. Bei den Elektrizitätswerken, in diversen Zeitungsredaktionen oder einer Hamburger-Kette wird nicht gerade zimperlich umgegangen mit den austauschbaren Lohnarbeitern. "Die Kette war nicht nur die Essschule der modernen Gesellschaft, sie war längst ihre Arbeitsschule. Für Subjobs gab es keine Einstellungskriterien - man musste niemand sein, um anzufangen, doch man wurde auch niemand." Sex bei der Arbeit hat der enttäuschte Held des Romans nie. Auch Petra Kelly lässt sich nicht den Strom ablesen. Dass sich die Politikerin der "Grünen" gerade umgebracht hat und wahrscheinlich deshalb niemand ihre Haustür öffnete, erfährt Kuschel erst später. Dafür gewähren ihm seine Nebenjobs in der Fliesenfabrik, auf dem Weihnachtsmarkt, als Kellner oder Kulturreporter tiefe Einblicke in die ernüchternde Arbeitswelt. "Die Jobbiografie - ein lebenslänglicher Volkshochschulkurs. Ingenieurwesen (Autowäscher), Printbereich (Zeitungsausträger), Lumpenintelligenz (Studium)" fasst Karl seine bisherigen Erfolge zusammen.

 

Die Tage der Lohnarbeit sind noch lange nicht gezählt. Karl hatte noch immer nicht alle Jobs. Aber von denjenigen, die in diesem Roman vorkommen, erzählt der Ich-Erzähler auf so humorvolle Weise, dass man ihm gerne noch eine Menge weiterer Stellenangebote auf den Tisch legen würde - einfach, damit es weitergeht. Man könnte nämlich ewig weiterlesen, hüte sich allerdings, diesen Mann in seinem eigenen Unternehmen einzustellen. Kiontkes Ich-Erzähler schaut nämlich immer genau hin und deckt mit erfrischender Selbstironie die heiklen Geheimnisse und abgründigen Missstände deutscher Betriebe und Redaktionen schonungslos auf.

 

Der Autor Jürgen Kiontke, geboren 1970, spricht hier aus eigener Erfahrung. Vor allem die Einblicke in die Zeitungsredaktionen und Fernsehproduktionen, die sein Debütroman "Little Class" gewähren, gründen sich auf autobiografische Fakten. Von 1993 bis 1997 war Kiontke bei der "Jungen Welt", danach Praktikant bei Verona Feldbusch, später Klatschreporter. Die Zeit des Bruchs bei der linken Tageszeitung hat er live miterlebt. "So ein brauchbares Mittel wie eine Tageszeitung schien für die Linken ein schlechtes Spielzeug zu sein, denn bald kamen schon die ersten angerannt und meinten: Wir wollten immer schon eine Wochenzeitung machen, mit schön viel Kultur und am besten ohne Wirtschaftsteil. Denn so stellte sich die Kulturlinke die Welt vor, ganz ohne Wirtschaft. Und weil es ihnen zu blöd war, jeden Tag zu arbeiten, wollten sie lieber nur jede Woche arbeiten." Die "Jungle Word" wurde gegründet. "Also so zwei, drei Regeln beachtet, dann konnte jeder einen linksradikalen Artikel schreiben."

 

Gerade als sich Karl eingelebt hatte im linksradikalen Milieu, "so ein bisschen akzeptiert war als Arbeitersohn bei den linken Professorentöchtern und -söhnen" - vor allem mit seiner "schönen Kolumne" "Neues Antiquariat", wo er Bücher anhand der Klappentexte rezensierte, geht der Saftladen der "Jungen Welt" plötzlich pleite. "Musste eigentlich jede Bude zumachen?"

 

Auch der virtuelle "Neue Markt", wo Kuschel sich kurz darauf als Worcaholic im teuren Anzug versucht, bricht schnell wieder zusammen. Der Protagonist verliert zum Glück nur ein paar Tausender und verlernt das Staunen bis zum Schluss nicht.

 

Jürgen Kiontke hat mit "Little Class" eine unglaublich witzige Sozialstudie verfasst. Weite Strecken des Romans hat der Autor angeblich neben der Arbeit auf Post-it-Zetteln niedergeschrieben. So weit ist er mit der Selbstausbeutung zum Glück für den Leser also dann doch nicht gegangen - jedenfalls scheint genug Zeit geblieben zu sein, Literatur daraus zu machen. "Der eigene Kopf, das virtuelle Büro! Karl Kuschel, Sohn seiner Klasse, und sein Gehirn - eine Biomacht! So betrog ich mich nun selbst qua Selbstverwirklichung. Ich glaubte, ich tat gern, was ich tat, und erduldete geduldig."

 

Gustav Mechlenburg

 

Jürgen Kiontke: Little Class, Verbrecher Verlag, Berlin 2005, 156 Seiten

 

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