15. September 2005

Spökenkieker?

 

Immer wieder muss St. Pauli herhalten als Mythos des romantisch verklärten Gegenmodells zur „bürgerlichen Gesellschaft“. Was in den Staaten heutzutage der coole Pimp ist, war das in den 60ern der intellektuell beschlagene Wolli (Indienfahrer) auf Pauli? Ein Mister mit einer Riesen-Bücherwand (statt einer Chrom-Karre) und ein paar Damen, die für ihn ... na ja... Sie wissen schon. (Obwohl ... wird Prostitution nicht erst möglich dadurch, dass Frauen als Missbrauchsopfer oftmals zu Wiederholungsopfern und -tätern werden, die unbewusst in diesem Kreislauf gefangen sind, obwohl sie willentlich ganz und gar einwilligen ... in den Akt? Das soll hier nicht eingehend untersucht werden, wären aber ein, zwei interessante Themen für eine Reportage, zu der ich gerade keine Lust habe.)

 

Der Mythos St. Pauli wurde in den 60ern wohl noch viel extremer verherrlicht als heute oder in den 80ern, da Immendorff das La Paloma kaufte, das neulich Schauplatz einer Messerstecherei wurde. Heute bekommt man diesen mythischen Geist außer in einigen naturbelassenen Gelbgardinenkneipen nur noch im Pudel-Club, der so bestimmt wieder falsch geschrieben ist, sich aber an der Hafentreppe eingenistet hat (und diesem Trash-Krimi-Ambiente (Horst Frank!) frönt. Womit wir immer noch nicht beim Buch sind. Aber: Dieser ganze Kiez-Kennertum-Kram nervt auch. Dieser Mythos von den Hinterzimmern der Macht (höchstwahrscheinlich sind es eher die Rücksitze der 600er Mercedesse). So wie in Klagenfurt im letzten Jahr der Roman gefordert wurde, der Einblicke gibt in die Hinterzimmer der Macht, hat der heute wieder heiß umschwärmte Schriftsteller Hubert Fichte nach Wollis Aussage (den der Fichte-Experte Jan-Frederik Bandel auf über 100 Seiten interviewt hat) immer das Geheimnis dahinter gesucht. Auf dem Kiez. Auf seinen Reisen. Und dabei oft mehr Geheimnisse hinzugefügt als aufgeklärt. Daher sagte man ihm eine gewisse „Spökenkiekerei“ nach. Die große Geisterschau. Aber wer sagt, dass Linke ohne Märchen auskommen (müssen)? (Übrigens, nebenbei gesagt, spielt auch der neue Roman „Herr der Hörner“ von Matthias Politycki auf der Aufklärungs-Vermeidungs-Ebene im karibischen Voodoomilieu mit den diversen Versionen des Katzenficks.)

 

In Jan-Frederik Bandels Interview-Buch „Fast glaubwürdige Geschichten“ tauchen sie alle auf, die großen Märchenerzähler: Raddatz, Wondratschek, Domenica, Peggy Parnass, Stefan Aust, Hermann Peter Piwitt, Hans Eppendorfer ... Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler, Weirdos, die sich an der Glut der Twilight World/Zone die seelischen Füße wärm(t)en. Entweder sprechen sie selbst oder es wird über sie gesprochen. Äußern sich über den Ausnahme-Schriftsteller Fichte, sprechen über Erlebnisse mit ihm. Der Leser wird Zeuge vielerlei Erinnerungen, Entrückungen, Zerwürfnisse und großer Freundschaften. Herbert Jäger berichtet unter anderem über Fichtes Beziehung zu Hans Henny Jahnn, Hans Christoph Buch über die gemeinsamen Tage mit Fichte bei einer Tagung der Gruppe 47 und im Literarischen Colloquium Berlin.

 

Um mehr Licht ins einsame Dunkel von Hubert Fichtes Leben zu bringen, wäre vielleicht ein Interview mit einem ehemaligen Geliebten angebracht gewesen. Das aber fehlt. So erfährt man immerhin, dass Fichte die Welt mit seinem „Oymel“ durchforstete und streifte. Und dass ihn die meisten Menschen nur interessierten, inwieweit sie als potenzielle Liebespartner infrage kamen ... Von Schwanzgrößen ist öfter die Rede. Und von Schwarzen.

 

Das liest sich süperlöcker weg, ist amüsant und macht den Kiez, aller Eingangsreden zum Trotz, wieder zur Schatzkammer bizarrer Geschichten. Wenngleich Wolli ein bisschen zu viel des Guten (Menschen) darstellen will. Natürlich will er sich vom, man verzeihe das Unwort, „Gutmenschentum“ freisprechen. Aber gehört das nicht zum Gutmenschentum dazu? Sei es ihm gegönnt. Ein hundertseitiges und hundertprozentiges Interview liest man nicht alle Tage. Dem Menschen Hubert Fichte kommt der Leser dabei nur bedingt näher. Der Legendenbildung schon. Brigitte Kronauer bricht in ihrer Dankesrede, anlässlich der Verleihung des Hubert-Fichte-Preises 1998 an sie selbst, eine eindrucksvolle Lanze für Fichtes zweiten Roman „Palette“, ein „formal recht strapaziöses Buch (derartiges fürchtet man heutzutage eher)“, das 1968 „immerhin in einer Startauflage von 11.000 Stück erschien“.

 

Am besten gefällt die dreiseitige Anekdote von Günter Guben („Eine fast glaubwürdige Geschichte von Hubert Fichte“) über einen bodenlangen Pelzmantel Fichtes. Denn in ihr bleibt unklar, ob sie wahr ist oder nicht, und beleuchtet: War Fichte lost in Fiction? War er jemals in Rovaniemi? War er ein Spökenkieker? Ein Schauergeschichten-Erzählermann? Jemand, der den großen Dunst der Ahnung mehr bevorzugte als das wissenschaftlich wirklich Fundierte? Und, wäre das eigentlich wirklich so schlimm? Schaden könnte es nur dem Mythos des Ethnologen, Fauna- und Florakenners Fichte.

 

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla erläutert unter anderem die Bedeutung von bei Fichte zentralen Begriffen wie „dokumentarischer Blick“ und „Autobiografismus“ für ihre Arbeit. Mit Klaus Sander unterhält sich Bandel über die CD-Neuauflage von Fichtes Star-Club-Lesung „Beat und Prosa“. Um diesem Buch eine gerechte Kritik angedeihen zu lassen, müsste man wohl ein sehr umfangreiches, weit verzweigtes Werk vorlegen. Daher nur so viel: Dieses Buch ist für jeden Anhänger gelebter Literatur eine echte Bereicherung.

 

Carsten Klook

 

Jan-Frederik Bandel: Fast glaubwürdige Geschichten. Über Hubert Fichte, Rimbaud Verlag 2005

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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www.deichtorhallen.de/ausstellungen/FichteMau.htm