11. September 2005

Entwicklung als Abwicklung

 

Leuten, die das Etikett „Totalitarismus“ mehr als ornamental verwenden, wirft man in der Regel vor, dass sie letztlich nicht wissen, um was es eigentlich geht. Um das Projekt Aufklärung, bescheiden gesprochen, um die Verwirklichung der Utopie oder um die Weltrevolution emphatisch (und selbst schon ziemlich anachronistisch) gesprochen. Die dann irgendwann fälligen Links-rechts-Aufrechnungen überschreiten bald die Grenze des Geschmacklosen (Auschwitz-Gulag). In keiner seiner Buchveröffentlichungen vergisst etwa Slavoj Žižek, den entscheidenden Unterschied zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus aufzuzeigen. In „Die politische Suspension des Ethischen“ heißt es etwa: „Der Stalinismus begriff sich selbst noch als Teil der Aufklärungstradition, in der die Wahrheit jedem vernünftigen Menschen zugänglich ist, ganz gleich, wie verkommen er sei – was der Grund dafür ist, dass er subjektiv für seine Verbrechen verantwortlich war, während für die Nazis die Schuld der Juden ein unmittelbares Faktum ihrer biologischen Konstitution war…“

 

Žižek übersieht freilich, dass es für Lessing ausgemacht war, dass Wahrheit eben nicht zugänglich sei (sie liege in Gott: „Eine Duplik“); außerdem schmerzt es, dass Žižek das Wort „Verbrechen“ nicht in Anführungszeichen setzt: Das Verbrechen, das kann man sehr schön in „Sonnenfinsternis“ nachlesen, war von vorne bis hinten konstruiert, ein ephemerer Fleck auf der etwas einfältigen einsinnigen Kausalitätsreihe der vermeintlichen Weltgeschichte. Es tut dann richtig weh, wenn man bei dem doch sonst so gewitzten Žižek liest, dass fundamentale historische Strömungen in ein plumpes strukturalistisches Raster gepackt werden: auf der einen Seite Stalinismus qua Zivilisation, auf der anderen Nazismus qua Barbarei.

 

Interessant ist, dass noch (oder schon) die Hauptfigur von „Sonnenfinsternis“, der ehemalige Volkskommissar Rubaschow, der angeklagt wird, konterrevolutionär gehandelt zu haben, auch als Opfer des eigenen Systems diese Fundamentalopposition unterschreibt: So trägt er als Gefängnisinsasse in sein Tagebuch ein: „Wir haben den Neo-Machiavellismus in dieses Jahrhundert eingeführt; die anderen, die konterrevolutionären Diktaturen, sind plumpe Kopien. Wir waren Neo-Machiavellisten im Namen der universalen Vernunft – das war unsere Größe; die anderen im Namen nationaler Romantik – das war ihr Anachronismus. Deshalb werden wir letzten Endes von der Geschichte absolviert werden, sie nicht…“ Koestler ist natürlich nicht Rubaschow. Er tritt vielmehr heraus aus dem tradierten und auch heute noch kolportierten Bewertungsschema und zeigt den Mechanismus auf, der das Schema funktionieren lässt.

 

„Vernunft“ läuft als Schibboleth; wenn in dem Roman immer wieder davon die Rede ist, dass die Revolutionäre diejenigen sind und waren, die die Sachen konsequent zuende gedacht haben, so überführen sie sich allein schon dadurch eines Idealismus, den sie selbst andernorts hart bekämpften. Es ist nichts als der Glaube, der die Vernunft marschieren lässt. Diese religiöse Note hat linkes Denken nie abgestreift. Nicht umsonst heißt es weiter im Tagebuch Rubaschows: „Aber im Augenblick [also im Moment der stalinistischen Säuberungen, 1936-38] denken und handeln wir auf Kredit.“ Ebenfalls in den 30er Jahren hat sich der Österreicher Robert Musil darüber Gedanken gemacht, was passiert, wenn eben dieser „Kredit“ im ideologischen Sinn wegbricht. Dann geschieht entweder gespenstisch „seinesgleichen“, oder man arbeitet mit Drohgebärden und allem, was dazu gehört, wenn man die Macht hat, Glauben/glauben zu machen.

 

Von diesen Perversionen handelt „Sonnenfinsternis“. Keine Frage, dass es nicht darum geht, zuletzt noch den „Ehrenjuden“ aus dem Diskussionsärmel zu schütteln. Der Joker steckt weder in dem einen noch in dem anderen System.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman, mit einem Nachwort des Autors, Hamburg 2005 (Rotbuch), 272 Seiten

 

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