7. September 2005

Genuss und Verdammung

 

Und was wären die natürlichen Paradiese? Und, da man sie im Plural nennt, hätten sie vielleicht nicht den hohen Anspruch von Ewigkeit und Ausschließlichkeit? Eins neben dem anderen? Jedem sein eigenes? Oder gibt es vielleicht künstliche Paradiese eben deshalb, weil man in der Natur noch keines gefunden hat? Und das, von dem man hier im Westen spricht, hätte eben keinen anderen Status als einen mythologischen? Womit die Rede vom Paradies natürlich nicht beendet wäre. Es bleibt im Gespräch und im Geschriebenen. Ein Topos. Auch hundertvierzig Jahre nach Erscheinen dieses Buches hat Natürlichkeit im common sense einen besseren Leumund als Künstlichkeit.

 

Aber wo genau ist der Unterschied? Dieser Frage geht Baudelaire nicht nach. Er setzt die Grenze als gegeben voraus. Es gibt klare Übertretungen und Dinge, die man besser nicht getan hätte. Und dazu gehören auch die beiden Genüsse und Fesseln, um die es hier geht, Haschisch und Opium. Was mich am meisten gewundert hat, dass der gute Charles nicht aus eigenen Erfahrungen plaudert, sondern andere für sich sprechen lässt, der ganze zweite Teil, über Opium, gehört gewissermaßen Thomas de Quincey und dessen Bekenntnissen. Die beiden sehr heterogenen Abschnitte, die es nicht auf eine klare Unterscheidung der Wirkung der beiden Gifte anlegen, verhalten sich ein wenig wie einführender analytischer Teil zu demonstrativem Exempel. Das Ganze absolut moralisch gehalten, ein paar herumlaufende Irrtümer oder Vorurteile werden benannt und wiederlegt oder aufgedeckt. Etwa das, dass diese Gifte mehr als eine graduelle Veränderung der sinnlichen Apparatur zur Folge hätten. Diese Beobachtung, die an mehreren Stellen mitgeteilt wird und die also nichts anderes meint, als dass jeweilige charakterologische Eigenheiten einfach verstärkt, aber nicht revolutioniert würden, finden sich durch die Arbeitung des Textes widerlegt. Und das zweifach:

 

Einmal auf der sprachlichen Ebene, das andere Mal durch die weitere Bemerkung, dass die Gewohnheit an diese Gifte eben Effekte produziere, die selber keine direkten Wirkungen des Giftes sind, sondern eher als Abhängigkeiten zu beschreiben sind, das heißt, das Ensemble einer habitualisierten Einnahme geht tatsächlich über die einmalige Wirkung hinaus, die sich in diese Gewohnheitsstruktur einlegt. Mit der sprachlichen Gestaltung meine ich die Beschreibungen der Erfahrungen mit Haschisch oder Opium selber, die von handfesten Tatsächlichkeiten noch nicht mal auszugehen brauchen, um im metapherologischen Delirium anzukommen, das vielmehr von Anfang an herrscht und mehr schlecht als recht verschleiern kann, dass eine vergangene Sinnlichkeit in ihrer Fremdheit nicht durch den poetischen Buchstaben zur Auferstehung gebracht werden kann. Wer sich so hemmungslos an die Stelle anderer begibt, hat sich selber den Segen erteilt, Gleichungen auszusprechen, kommt dann allerdings nicht darum herum, den Fluch, den er verteilt, auch auf sich zu beziehen, denn was wäre künstlicher, als böse Blumen, die, einmal, berochen, nun nicht mehr aufhören, den von ihnen Angezogenen, ihnen Verfallenen von ihrem abseitigen Charme zu erzählen.

 

Dieter Wenk (02.01)

 

Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese, verschiedene Ausgaben (Les paradis artificiels)