3. September 2005

Die Geheimfächer der Bilder

 

Wenn man dieses Buch aus der Hand legt, wird man die Namen Marianne und Heinrich vermutlich nicht mehr mit der Gleichmut aufsagen wie zuvor. Interessanterweise passiert das Gleiche nicht mit „Gerhard“ (mit oder ohne „Richter“). Obwohl die Marianne- und die Heinrich-Geschichte ohne die Existenz einiger Richter-Bilder nie aufgeschrieben worden wären. Der Maler hat aber eben diese Bilder ohne das Wissen um die Marianne- und die Heinrich-Geschichte gemalt. Mit dem, erst sehr spät nachgetragenen, Wissen hätte er sie vielleicht gar nicht gemalt. Oder anders. Das weiß man nicht. Jürgen Schreiber weiß sehr viel. Mehr als Gerhard Richter. Es ist nicht sehr schön, wenn ein anderer einem die Wahrheit über sich sagt. Und man diesem anderen doch selbst auf die Sprünge geholfen hat. Mit seiner eigenen Kunst.

 

Da gibt es also zum Beispiel Gerhard Richters Bild „Tante Marianne“ aus dem Jahr 1965, das den Künstler als Säugling mit seiner um etwa 15 Jahre älteren Tante zeigt. Oder das ein Jahr früher entstandene „Familie am Meer“ mit der ersten Frau Richters als kleines Mädchen und ihrer Schwester sowie ihren Eltern. Der Betrachter wird recht in der Annahme gehen, dass die Gemälde auf Fotos zurückgehen. Dafür gibt es u.a. den „Atlas“. Aber die Legenden stehen dort nicht. In privaten Angelegenheiten vermisst man sie auch nicht. Der „Familie am Meer“ (situiert in den 30er Jahren) etwa sieht man nicht an, dass sie mal irgendwas mit Gerhard Richter zu tun haben wird. Irgendwann fängt das private Wissen an zu zirkulieren. Spätere erste Frau, Schwiegervater (Professor Dr. Heinrich Eufinger). Während seines Studiums lernt Richter Ema Eufinger in Dresden kennen und lieben. Er verbringt viel Zeit im Hause des Professors und Frauenarztes. Aber er kennt dessen Geschichte nicht. Ebenso wenig wie die seiner Tante Marianne, von der er nur so viel weiß, dass sie ein ungutes Ende gefunden hat. Abschreckendes Beispiel. Mehr Information gab es nicht.

 

So ziemlich alles, was man über Marianne und Heinrich erfahren kann, ist in diesem Buch nachzulesen. Jürgen Schreiber war in den Archiven. Zeichnet den Weg der Internierung Tante Mariannes nach. Die zunehmende Entfernung vom Elternhaus. Marianne wurde wegen Verdachts auf „Schizophrenie“ weggeschlossen. Fast acht Jahre weste sie in verschiedenen Anstalten, bevor sie im Februar 1945, am Morgen nach der Bombardierung Dresdens, an systematisch herbeigeführter Entkräftung starb. Zwischendurch wurde sie, wie viele andere „geistig Behinderte“, zwangssterilisiert. An diesem Punkt lässt sich bequem der Professor ins Spiel bringen. Wie viele Ärzte seiner Zeit war auch Eufinger in der „Partei“, zudem, ab 1937, SS-Mitglied. Als Chef einer Klinik war er für Zwangssterilisierungen verantwortlich, die er in vorauseilendem Gehorsam in vierstelligem Bereich vornehmen ließ. Zwar geriet ihm Tante Marianne nicht höchstpersönlich (die beiden kannten sich nicht) auf den Operationstisch, aber das Modell, das bis hier entworfen wurde, ist klar. Ohne Wissen hat Gerhard Richter Geschichte gemalt. Tragische. Die Tante ein Opfer, der Schwiegervater ein Täter, der den Systemwechsel nahezu unversehrt überstand und sogar noch ein weiteres politisches Regime (die BRD) erfahren durfte.

 

„Ein Maler aus Deutschland“ ist ein Buch, das zur Trauerarbeit einlädt, nicht nur den Leser, sondern erstaunlicherweise auch den Maler, dem der Autor in quasi permanent galoppierender politischer Korrektheit eine noch ausstehende Wallfahrt vorhält. Das Buch ist in einem Ton geschrieben, als ob man noch nie etwas über die nationalsozialistischen Gräuel gehört hätte (und: als ob man immerhin nachträglich und symbolisch „Hitler“ besiegen könne; in diesem Zusammenhang ist Slavoj Žižek uneingeschränkt zuzustimmen, nämlich „dass die quälenden Versuche, die Überzeugungskraft ideologischer Gebäude durch Bezugnahme auf Fakten, d.h. durch Zugänglichmachen aller unbekannten Daten zu untergraben, an eine Grenze stoßen.“). Das bebilderte Buch ist sehr ausführlich, zutiefst moralisch, emphatisch bis unter die Haut (das wirkt meist lästig) und man muss nicht sehr viel nachdenken, um sich klar zu machen, dass solche Opfer-Täter-Konstellationen in Familien vermutlich gar nicht mal so selten waren. Aber Gerhard Richter ist halt ein prima Aufhänger. Natürlich wird man diese Bilder jetzt ohne den „Schock des Realen“ nicht mehr betrachten können. Man bekommt die „Dialektik des Bildes“ nahezu umsonst. Und das unverhoffte, weil von der Bande her zugeschusterte Mehr-Wissen verhilft dem Maler wenn nicht zu seiner Wallfahrt, dann möglicherweise doch zu einem neuen Aspekt serieller Konstellation.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Jürgen Schreiber, Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter. Das Drama einer Familie, München und Zürich 2005 (Pendo)

 

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