24. August 2005

Umarmungen

 

Nach Paracelsus sind Nymphen Geschöpfe, die wie Menschen aussehen, aber keine Seele haben. Eine solche wird ihnen jedoch zuteil, wenn sie mit Menschen schlafen und dabei ein Kind zeugen. Die Nymphe als Mittelglied zwischen Tier und Mensch stammt natürlich aus einem Zwischenreich namens Mythos. Da aber auch zahlreiche Bilder dieser sagenumwobenen Zone ihre Herkunft verdanken oder sich als Gemälde in einer medialen Zone ansiedeln, ohne gleich als solche „erkannt“ werden zu müssen, lässt sich folgendes Verhältnis formulieren, das nur auf den ersten, unvorbereiteten Blick kapriziös wirkt: „Die Geschichte des zweideutigen Verhältnisses von Menschen und Nymphen ist die Geschichte der schwierigen Beziehung, die der Mensch zu seinen Bildern unterhält.“

 

Dieser Satz enthält in nuce das Programm des vorliegenden Aufsatzes, zugleich funktioniert dieser Satz möglicherweise als das „Ereignis“, das Walter Benjamin als „dialektisches Bild“ beschreibt und dessen Verschränkungen Giorgio Agamben in zehn kleinen Abschnitten so vorführt, dass eine Beschreibung in der Lage ist, die folgende zugleich zu erhellen und zu ergänzen. Eine mögliche Frage, die die Abschnitte durchzieht, heißt: Wie entsteht bildervermittelte Bedeutung? Agamben legt nahe, dass Bedeutung im emphatischen Sinn einem Verhältnis von Bildern entspringt. Dieses Verhältnis überrascht den Betrachter, genauer gesagt bringt der Betrachter in einem unvorhersehbaren Moment dieses Verhältnis erst hervor und promoviert in diesem Zuge das Bild, das ihm im Gegenzug einen Mehrwert verschafft, wie die Nymphe dem Mann das Kind durch den Akt. Dieser kurze Prozess des Aufladens – an einer Stelle spricht Agamben von „kairologischer Sättigung“ – wird an verschiedenen Beispielen exemplifiziert.

 

So bricht etwa Bill Viola in mehreren seiner Videos (u.a. in „Greetings“ von 1995) das vermeintlich Statische von Gemälden dadurch auf, dass er die auf ihnen abgebildeten Situationen nachstellen lässt, sie in beinah unmerkliche Bewegungen versetzt und sie in das ikonografische Motiv eines anderen Gemäldes wieder einrasten lässt. Eben dieser Moment der erneuten Beruhigung ist nun aber so sehr mit Zeit aufgeladen, dass er wie eine energiegeladene Unterbrechung wirkt, die ihrerseits durch was auch immer fortgesetzt zu werden verspricht. Mit diesem relativ einfachen Verfahren vermag Bill Viola zu zeigen, dass Bilder ein Leben haben, das als Nachleben nun ganz auf der Seite des Betrachters angekommen ist – als „lebender Bilddatenbank“. Die einzige Voraussetzung dabei: die Fähigkeit der Bilder, sich in Erinnerung zu bringen, gleich den Nymphen, deren einzige Beschäftigung vor dem zweiten Leben darin besteht, zu buhlen. Die Unterscheidbarkeit der Bilder, ihre Eminenz, ist das, was für Aby Warburg die Sammlung von „Pathosformeln“ war auf dem Weg der Gestaltung eines Atlasses, einer Karte von Bildern also, „die dem Menschen im Kampf gegen die Schizophrenie seiner Imagination zur Orientierung dienen soll“ (Agamben). Keine Frage, dass das parallel zu Warburgs karthografischem Unterfangen entstehende Kino zu einer Katalogisierung von „Pathosformeln“, freilich auf einem anderen, dynamischen Schauplatz, beitrug.

 

Wenn nicht alle Beispiele, die Agamben anführt, bestechen, so betören sie doch oder interessieren dadurch, dass sie um eine Unterbrechung kreisen, die sie selbst bewirken und so an die Buhlschaft erinnern, zu deren unermüdlicher Ausübung Nymphen und Bilder gleichermaßen allererst geschaffen sind. Agamben hat hier sehr schöne Präliminarien zu einer Logik des Übergangs vorgelegt. Und dazu angeregt, zu bedenken, was alles zu übergehen ist, um ein „Dynamogramm“ des Übergangs entstehen zu lassen. Der 2003 zuerst in einer französischen Übersetzung erschienene Titelaufsatz wird in der Merve-Ausgabe ergänzt durch „Die Passion der Faktizität“ aus dem Jahr 1988, einer sehr gelehrten Studie zu einem scheinbar vergessenen Element in Martin Heideggers Daseinsanalyse in „Sein und Zeit“ – nämlich der Liebe –, und „Entäußerte Manier“ (1991), einem Vorwort Agambens zu einer Gedichtsammlung von Giorgio Caproni.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Giorgio Agamben, Nymphae, herausgegeben und übersetzt von Andreas Hiepko, Berlin 2005 (Merve)