22. August 2005

Dialektisch bis zum Exzess

 

´s sind so kleine Leben,

´s ist so wenig drin,

mußt du humta humtata,

denn bald bist du dahin,

und auf deine Liebe scheint der Mond.

(W. Büttner)

 

Vestalinnen, gürtet euch! Der Junge braucht den Arsch voll. Der „Oberaufklärer“ will überschnappen, um das zu verhindern, braucht er den Hintern voll, vollstreckt nicht von geilen Wahnsinnsweibern in aufreizender Pose, mit Zombies zu inzestuösen Brüdern und aufgeschlitzten Unterleibern, nicht von Intelligenzbestien, die rhetorisches Napalm versprühen, die Gemeinde einzudampfen mit Scharfsinn und Wutanfällen, nicht von klugen Mathematikerinnen oder stolzen Männern, sondern eben von Vestalinnen. Herdfeuer, Keuschheit, keine körperlichen Gebrechen, mit lebenden Eltern von freier Abkunft, also selbst frei und entsprechend langweilig. Es geht ihm danach besser, und uns macht die Abreibung nichts.

 

So ist der Suhrkamp Verlag für diesmal ein Tempel der Vesta, ewiges Feuer für Sprache und Fortbildung, klösterlich weltfremd aber staatstragend. Hierher kommt Dietmar Dath mit seiner neusten „Zwangsretusche“, wie er das unausgesetzte Schreiben nennt. Ein Doppelbuch, ein Vexierbild. 14 Briefe an Sonja, die Schulliebe, und die salzweißen Augen, Texte zu einem, der am liebsten missverstandenen und deshalb um so heftiger in Dienst genommenen Genres: der Drastik. In Filmen, Büchern, Videospielen und Musik. Splatter, Porno, Gewalt und Getöse. Er weiß, was er tut, und darum muss man sich beeilen, mit der Tracht Prügel, die er haben will für seine herbeifantasierte Schuld, denn sonst passiert Folgendes:

 

Es gibt eine Form von Spracherotik, die nur die wenigsten Männer goutieren (man muss für das Buch auf ein aufgeklärtes Publikum hoffen), die sie aber selbst ständig in Anwendung bringen wollen (deshalb gibt es so viele männliche Autoren). Das Spiel geht so: Mindestens eine Frau hört zu, wenn (meistens) ein Mann sich unglaublich gelahrt produziert zu einem Thema seiner Wahl. Dass es seine Wahl ist, ist wichtig. Man verliert leichter den Überblick, wenn einem etwas wirklich wichtig ist. Und Vestalinnen hören nicht zu, weil sie selbst sehr bei der Sache sind, sondern weil einer sich anschickt, verbal die Hosen runterzulassen. Der Typ mit der perfekten Syntax zeigt sich in unperfektem Mitteilungsbedürfnis. Der Effekt bei den Zuhörerinnen ist wie beim Betrachten von Kleinkindern oder jungen Hunden, Bergungsschutz und ... nicht zu unterdrücken. Übersprungshandlung Hilfsausdruck. Das ist dann beiden recht.

 

Konkret: Sonja bekommt 14 Briefe zu einem Thema Dietmar Daths unterschrieben mit D., die ihr etwas sagen sollen, jedenfalls legt das der dringliche Ton in der persönlichen Ansprache nahe. Wahrscheinlich sagt es ihr nicht das Geringste, das ist der Trick. Wäre hier irgendetwas, bei dem man „ja, richtig is o.k.“ abwinken könnte, weil es einem etwas sagen würde, wäre der ganze buchstäbliche Erotikkram für beide futsch. Nur bei Staunen und Ratlosigkeit entwickelt sich der Text ungestört zur tollsten Blüte.

 

Also toll, intertextuell, innertextuell, soziologisch, sprachtheoretisch und was einem noch alles Wahnsinniges dazu einfallen mag. Das Buch ist eine Finte, eine der bösartigsten dazu. Ein Briefroman wie „Werther“, mit anständiger Steigerung bis zum verunglückten Selbstmord, aber eben mit der weise abgekochten Dorschäugigkeit derer, die wissen, wie es funktioniert. Vernunft und Drastik werden beschützt in einem Briefroman, dessen berühmter Vorgänger die hirnloseste und absurdeste Reaktion der Literaturgeschichte erzeugte – massenhaften Selbstmord (Drei Kreuze für ein Hallelujah, es gibt noch viel mehr fabelhafte Überkreuzkonstruktionen).

 

Lässt man sich auf die Liebesgeschichte ein, ist man sowieso verloren, wie immer bei Liebesgeschichten. Liest man die Aufsätze über Drastik, hat man hinterher nicht weniger Angst davor, auch wenn vieles deutlich gemacht wurde. Zu Anfang des Textes heißt es irgendwo in etwa: Sprecher werden so verstanden, wie sie es gemeint haben. Recht hat er. Angewandt auf diesen Text wächst sich das Unternehmen aber zu einem Amoklauf im Referenzsystem aus. Das ist keine Drastik, sondern die eigene Rezeptionsblödigkeit. Das hat er gemeint und das hat man am Ende des Textes auch verstanden, so viel zur Bösartigkeit.

 

Dath erklärt, dass Drastik über genau das handelt, was man postmodern-aufklärungskritischerweise nicht mehr besprechen kann. Die „Wunde Dummheit“ lässt sich aber nur mit Vernunft und Aufklärung sterilisieren und die hat leider eine fast so schlechte Presse wie Porno, Splatter etc. selbst. Der Briefschreiber D. hat aber eine ganz andere Wunde. Was ist in diesem Buch „das wirklich Schlimme“, von dem in der Widmung gesprochen wird? „Die Krankheit Denken, schrecklich, heilt dir keine Kur“ (und das ist nicht Aufklärungskritisch gemeint), so heißt’s in „Yeti“ (der Schädelbasislektion von Durs Grünbein), und auch D. folgt einer „Fluchtspur weiß auf weiß“ im Schnee. Sonja, Schuld und Sühne, (wie gesagt intertextuell) und Weisheit, eben Sonja/Sophia.

 

Die Passage, in der D. das Denken gegen eine drastische Tat eintauschen möchte, erscheint am unrealistischsten und findet schon deshalb nicht statt, weil es nicht ins drastische Kunst-Repertoire gehört, kopflos, geil und rasend zu handeln wie echte Amokläufer, sondern er müsste eben kühl, berechnend, mit gerichtsmedizinischer Präzision vorgehen. Das ganze Buch also eine einzige Übersprungshandlung und Überkreuzbeschreibung. Sehr genau in der Analyse drastischer Momente, umso genauer, je unschärfer die Empfindung für Sonja ist.

 

Dialektisch bis zum Exzess, genau das Richtige für den Suhrkamp Verlag, den Verlag Adornos, und für Vestalinnen, die darauf spezialisiert sind zuzuhören, aber doch genug verstehen, um nicht die Brüste zu zeigen und damit die Männer aus dem Tritt brächten. Sehr gut.

 

Nora Sdun

 

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit, Suhrkamp 2005

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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