17. August 2005

Die Grauzone der strukturellen Koppelung

 

Am Anfang waren die Chladnischen Klangfiguren. Muster, die entstehen, wenn man eine mit Sand bestreute, an einem Punkt befestigte Platte zum Beispiel durch Anstreichen mit einem Geigenbogen in Schwingung versetzt. Damit konnte der Physiker Ernst Florens Friedrich Chladni um 1800 zeigen, dass unsichtbare Klänge das Zeug haben, Wirkungen im Materiellen zu erzielen (von den mannigfaltigen Wirkungen auf die immaterielle Seele wusste man ja schon vorher). Je nach romantischer Veranlagung durfte darüber spekuliert werden, welche geheimnisvollen Zusammenhänge zwischen Klang und Form bestünden. Bereits Pythagoras behauptete indes ein nicht ganz unschuldiges Verhältnis zwischen Stimme und Gesicht, das ihn als Lehrenden dazu bewog, nicht direkt vor seinen Schülern aufzutreten, sondern hinter einem Schleier sprechend zu dozieren, auf dass die Schüler bei der Übertragung des Geistes nicht durch das Gesicht das Meisters abgelenkt würden. Die Akusmatik hat also eine lange Tradition. Ebenso die Ansicht, siehe Platon, dass zu viele Sinne vernunftschädigend sind. Ideen sind unsichtbar und wirken völlig geräuschlos. <?xml:namespace prefix = o ns = "urn:schemas-microsoft-com:office:office" />

 

Was passiert, wenn an ontologische Fragestellungen technikgeschichtliche treten, wenn also nach den „nicht zuletzt durch digitale Produktions- und Rezeptionstechniken grundlegend veränderten Verschränkungen zwischen der Ton- und der Bildebene“ – wie in dem vorliegenden Band – gefragt wird? An Gewissheiten treten Vermutungen, was ja erst mal nicht schlimm ist. Die Punktierungen des pythagoreischen Sprechrhythmus, in dem sich ein geheimes Wissen niederschlägt, werden abgelöst durch zwar digital berechenbare, aber genauso undurchschaubare Erzeugungsweisen, die zum Beispiel als Technorhythmen die Frage danach zulassen, was für ein Bild man sich von ihnen machen soll. Überwundene Performance-Exhibitionismen von Rockmusikern lassen Laptop-Musiker erst mal ziemlich alt aussehen. Der vermeintliche dionysische Zunder erzeugt durch das bloße Umlegen eines Schalters. Eine apollinisch-coole Gerätschaft lässt einem nicht gerade die Augen übergehen.

 

Aber vielleicht ergibt sich der synästhetische Denkzwang auch nur aus der Gleichursprünglichkeit von Visuellem und Akustischem dank digitaler Produktionstechniken? DJs und VJs samplen, bringen Neues hervor je nachdem, wie niedrig die Rekurstaste geschaltet ist, nehmen irgendwie aufeinander Bezug, aber eben dieses Irgendwie bleibt ziemlich unbestimmt, es sei denn, man bezieht sich auf gemeinsame Parameter wie Geschwindigkeit, Heftigkeit, die an sich natürlich keine digitalen Eigenheiten sind. Könnte es nicht sein, dass die Visuals ein Zusatz sind, den der Clubtänzer eigentlich nicht braucht, da er ja nicht zu Hause auf dem Sofa sitzt und MTV schaut? „Wir sehen die physische Darstellung von musikalischen Sound-Manipulation.“ Reicht es nicht aus, wenn man das hört?

 

Die Sound-Vision-Koppelung ist mit der Erfindung der digitalen Technik sicherlich mikroskopischer geworden, das Verhältnis selbst ist aber nach wie vor so enigmatisch oder so diskret wie zur Zeit der Erfindung des „okularen Cembalos“. Das heißt nichts anderes, als dass dieses Verhältnis kontingent ist, eben deshalb viel mit Clichés gearbeitet wird oder umgekehrt mit surprising material, womit gezeigt wird, dass die Sinne nicht aufeinander reduzierbar sind. Dieser Verschleierungstendenz arbeitete ja seinerzeit Pythagoras mit seinem Schleier entgegen. Er wollte sich nicht auf einen Hierarchiestreit der Sinne einlassen. Von dem er fürchtete, dass dabei die Stimme ihren Geist aufgab. Um in der Faszination des Visuellen unterzugehen. Was Pythagoras nicht sah: dass er mit der Ausschaltung des Visuellen – seiner eigenen Gestalt – überhaupt erst die Unterscheidung – eben nicht zwischen Akustik und Vision, sondern zwischen Auge und Blick hervorbrachte. Alle weiteren Unterscheidungen sind daran gebunden, mit welcher Technik auch immer gearbeitet wird.

 

Dieter Wenk (08.05)

 

Techno-Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume, hg. von Sandro Droschl, Christian Höller, Harald A. Wiltsche, Wien-Bozen 2005 (Folio)

 

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