13. August 2005

Dichtung und Wahrheit

 

Den Vermerk „verstorben“ kennt Anton Leitner, der Herausgeber von „Das Gedicht“, mittlerweile. Jedes Jahr werden bis zu zehn Ausgaben der zurzeit wichtigsten Zeitschrift für deutschsprachige Lyrik mit dem Vermerk an ihn zurückgesendet. Stirbt das Interesse an Lyrik aus? Bei einer Auflage von 5000 muss Leitner sich darum vorerst keine Sorgen machen. Geht man aber von den Umfrageergebnissen nach den Lieblingsgedichten der Deutschen aus, bei denen es sich fast ausnahmslos um Klassiker handelt, liegt der Verdacht tatsächlich nahe, bei Lyrik handele sich um ein aussterbendes Genre. Auch der Blick in die Verlagskataloge belehrt einen keines Besseren. Gähnende Leere, wenn es um Gedichte geht.

 

Sicher, das Land der Dichter und Denker pflegt seine Kultur. Im Schiller-Jahr erscheinen nicht nur die Gedichte des größten deutschen Dichters noch einmal, sondern auch „Sämtliche Gedichte“ von Hölderlin und Heinrich Heine. Außerdem „Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung“ in der Vorzugsausgabe in Leder und der Gedichte-Kanon von Marcel Reich-Ranicki. Der letzte der sieben Bände ist überschrieben „Von Erich Fried bis Durs Grünbein“. Naturgemäß behandelt ein Kanon nicht die aktuellsten Autoren. Durs Grünbein ist diesen Herbst bei Suhrkamp zwar unermüdlich gleich mit vier neuen Büchern am Start, der Jüngste ist er allerdings auch nicht mehr.

 

Befragt man Anton Leitner zur Stellung der Lyrik in der deutschsprachigen Verlagslandschaft, kommt er aus dem Schimpfen gar nicht mehr heraus. Seit Jahren sammelt der wohl eifrigste Literaturvermittler im Lande die wichtigsten Neuerscheinungen in seinem Keller und hat den besten Überblick. Die Tendenz ist eindeutig. Lyrische Einzelbände verzeichnen einen Rückgang von 30 bis 40 Prozent. Das Einzige, was auf dem Buchmarkt noch funktioniert, sind Anthologien. Thematisch zusammengestellte Gedichtsammlungen, vor allem zum Thema Liebe, sind angesagt. Geschenkbücher, ohne Begleitinformationen, mit gefälligem Cover, möglichst von Autoren, die bereits mehr als 70 Jahre tot sind. „Schachtelpoesie“ nennt Leitner die Vermarktungsstrategie ironisch. Aber solche Titel schaffen die 1000er-Marke. Übliche Lyrik-Bände dagegen kommen höchstens zu Auflagen von 500 Stück. Reich werden kann man damit nicht.

 

„Auf konventioneller Basis wird es bald keine lyrischen Einzelbände mehr geben“, ist sich Leitner sicher. Die großen und mittleren Verlage werden in Zukunft die Veröffentlichung von Lyrik ihren Autoren nur noch in Ausnahmefällen anbieten. „Erst Prosa, dann als Zuckerl Poesie“, so die Strategie der Verlage. Neben Klassikern und Übersetzungen aus dem Persischen oder Maurischen wird es also höchstens noch Liebes- und Humorpoesie von bekannten deutschen Autoren wie Ulla Hahn und Robert Gernhardt geben.

 

Kein Wunder, dass sich die jüngeren Autoren nach anderen Plattformen und Vertriebswegen umsehen müssen. Zahlreiche neue Literaturzeitschriften und -Internetportale wurden in den vergangenen Jahren gegründet. Viele mit Schwerpunkt Lyrik. Teils entstanden sie im Umfeld der Literaturinstitute, wie Edit aus Leipzig und Bella Triste aus Hildesheim, teils ganz in Eigenregie, wie das von Ron Winkler herausgegebene Intendenzen oder das jüngste Projekt (SIC). Die Zeitschriften sind Ausdruck eines regen Interesses an Prosa und Poesie. Poetry-Slam-Veranstaltungen und Poesiefestivals ziehen mittlerweile Tausende, vor allem jüngere, Besucher an. In Berlin und anderen Städten haben sich seit Mitte der 90er Jahre literarische Netzwerke aufgebaut.

 

Aus einem dieser Zusammenhänge ist auch kookbooks entstanden. Möchte man den Verlag telefonisch erreichen, muss man Daniela Seel, die einzige Person hinter dem Verlag, erst anmailen, damit sie aus dem Netz geht. Eine ISDN-Anlage hat die Verlegerin in ihrem Idsteiner Büro noch nicht. Dafür den wichtigsten Buchverlag für zeitgenössische Lyrik. Und das nach erst zweijährigem Bestehen von kookbooks. Seel hat damit klassische Lyrikverlage wie Dumont und Urs Engeler in Windeseile überholt.

 

Damit reich werden kann aber auch sie nicht so schnell. Immer noch werden bei weitem mehr Gedichte geschrieben als gelesen, geschweige denn gekauft. Books on Demand aus Norderstedt bei Hamburg beispielsweise führt mittlerweile 900 Lyrikbände, monatlich kommen 15 bis 20 neue Lyrikwerke dazu. Der Digitaldruck ist die Zukunft der Poesie-Veröffentlichung. Gerade kleine Auflagen lassen sich damit kostengünstig bewerkstelligen. Der Nachteil ist offensichtlich: Es fehlt ein Lektorat. Ausnahme stellt die Lyrik Edition 2000 dar. Mehr als 100 Bücher kann der vom Literaturwissenschaftler Heinz Ludwig Arnold betreute Verlag bereits vorweisen. Allerdings sind die Bücher nur übers Internet zu bestellen.

 

Solange die Verlagsbranche nicht umdenkt und die Feuilletons sich nicht stärker für das Thema interessieren, wird die Lyrik weiterhin, wenn auch auf hohem Niveau, ein Nischendasein fristen. Anton Leitner hat deshalb auch einen ganz anderen Vorschlag. Man sollte nicht wie bisher die Autoren oder Verlage fördern, sondern die Buchhändler unterstützen, die Lyrik zeitgemäß präsentieren.

 

Gustav Mechlenburg

 

 

 

Jahrbuch der Lyrik 2006

 

www.siconline.de

 

www.kookbooks.de

 

www.dasgedicht.de

 

www.lyrikedition-2000.de

 

www.editonline.de

 

www.bellatriste.de

 

www.engeler.de/zdz.html

 

www.lyrikline.de

 

www.intendenzen.de